Himmelblauer November
(Ernst Ebenteuer)

Das jüngst erschienene Buch mit dem schönen Titel – der übrigens schon feststand‚ bevor zu ahnen war‚ daß dieser Herbst einen geradezu gespenstisch schönen »himmelblauen November« zeitigen würde – umfaßt eine Auswahl von Gedichten aus vierzig Jahren gelebten Lebens‚ eines mal euphorisch erlebten wie auch zu anderen Zeiten leidvoll durchlittenen Künstlerlebens.
Die Ambivalenz des in diesem Zeitraum Geschauten und Empfundenen spiegelt sich im Formalen dieser Gedichte ebenso wie das Kaleidoskopische einer Seele‚ die berufsbedingt auch Randzonen‚ Schreckenszonen des Fühlbaren zu adaptieren gewohnt ist. Fluch oder Geschenk. Wie man es sehen will.
Da der Autor viel Erfahrung mit Vortrags- und Rezitationabenden von literarischen Texten hat‚ liegt es nahe‚ daß sämtliche Gedichte ohne Einschränkung für den mündlichen Vortrag geeignet sind‚ was von »moderner Lyrik« keinesfalls generell gesagt werden kann. Aber nicht allein das.
Eine beträchtliche Zahl der hier im Band versammelten Poeme spielt nicht mit tradierten Formen‚ sondern erfüllt diese. Einen nicht geringen Teil des Buches nehmen Sonette ein‚ die in Reimschema und Versmaß der Tradition folgen und doch oft auch in geradezu komödiantischer Weise poinitert vortragbar sind‚ ohne daß die Form im Vortrag als Korsett kenntlich würde.
»Der Freund‚ der sich mir schüchtern einst vor Jahren
in seiner schönsten Hoffnung vorgestellt‚
ist grad wie ich schon lange ohne Geld.
Da bleibt als letzter Ausweg: Taxi fahren.«
Kein Zufall ist‚ daß das Buch in Abschnitte eingeteilt ist‚ die musikalische Satzbezeichnungen tragen. »Scherzando«‚ »Affettuoso«‚ »Estinto«‚ »allegro amoroso«‚ um nur einige zu nennen. Da wundert es nicht‚ daß Form‚ Duktus und Empfindungstemperaturen wechseln‚ düstere Langgedichte – zwar rhythmisch‚ aber ohne Reim und strenges Maß – finden sich neben Pointiertem und Lapidarem.
Hier spricht eine in Gefühlszonen der Romantik zurückreichende Liebe zu Landschaft und Natur‚ dort finden sich Haßausbrüche einer tief verletzten Seele‚ die keine Bedenken hat‚ in klassisch geformtem Sonett rüde ein »Arschloch« zu beschimpfen.
Kuriositäten aus der Theaterwelt‚ die der Autor zur Genüge kennt‚ sammeln sich hier‚ erotische Obsessionen dort‚ Mitleid mit ins Prekariat gerdrängten Künstlerkollegen findet expresssiven Ausdruck auf der einen Seite‚ Ironisierung eigener leidvoller Erfahrungen auf der anderen; und tiefes Mitgefühl auch mit in künstlerischen Berufen nicht zu umgehenden Leidenserfahrungen von Arbeitslosigkeit‚ Verkennung‚ auch von gezieltem Ignoriertwerden. So wird schon einmal ein Epitaph »Auf eine sterbende Taube« Spiegelbild eigener Verzweiflung.
Nein: mit dem‚ was man im allgemeinen als »Neue Lyrik« bezeichnet‚ haben diese Gedichte so wenig zu tun wie mit den selbstgewissen neuen Drauflosreimern hinter den Mikrophonen vor gröhlender Menge‚ die keine Scheu haben von sich als von »Poeten« und » Dichtern« zu sprechen‚ während die Studentenjahre Burkhard Jahns geprägt waren von der Verächtlichmachung des Poetischen generell und der Nötigung inspirierter Künstler zur Selbstreduktion auf konsomolzenhafte Termini wie »Literaturproduzent«‚ »Textemacher«‚ »Filmemacher« und »Agitator«.
Immer war und ist Intention des Dichtenden die Beschwörung der Dämonen‚ die ihn peinigen. Das Goethe-Wort »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt‚ gab mir ein Gott zu sagen‚ was ich leide...« hat seine Gültigkeit nicht verloren‚ auch wenn hier Kummer und Kosmos dem einen oder anderen als eine Nummer zu groß für die heutige Sicht erscheinen mögen. Heute bleibt zwischen dichterischem Pathos in seines Wortes klarster Bedeutung und der selbstmitleidigen Larmoyanz ein schmalerer Grad denn je. Und so darf dann schon einmal eines der vorliegenden rund 200 Gedichte in »Himmelblauer November« in kräftiger Selbstironisierung beginnen:
»Dermaßen kotzt das Selbstmitleid mich an‚
daß ich schon denke‚ ich laß alles bleiben‚
vor allem diesen Käse aufzuschreiben‚
den ich nun wirklich nicht mehr riechen kann.«
Und bei allem Spott‚ bei allem Leiden‚ bei aller Verzweiflung stößt der Leser immer wieder auf geradezu kabarattistischen Humor und gleichzeitig auf tiefe Naturempfindungen‚ die einen zeitlosen Ausdruck in Gedichtformen finden‚ deren weitgehende Verbannung aus der Literatur der Gegenwart in Wahrheit aber auch in gar nichts zu begründen ist.
»Nur manchmal noch aus mürbem Schilf ein Schrei‚
am Strand verwelkte Tuben Sonnencreme‚
das Bleßhuhn friert‚ der Sommer ging vorbei‚
und Lebensplanung ist jetzt unbequem...«
So kultiviert Burkhard Jahn in all den so unterschiedlichen Gedichten gleichwohl einen sturen Trotz. Kalauernd könnte man schließen: er ist den literarischen Moden und dem Zeitgeist auf seine Weise ein wahrer Trotz-kist!

Jahn‚ Burkhard: Himmelblauer November. Gedichte. 2015. 207 S. ISBN 978-3-944064-38-3 Arnshaugk Lw. 18‚– €

Zum Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift