Der Fall des Sozialpädagogen Bernward Thiele
(Max Erdinger)

Katsouros entblättert in seinem Roman die Jämmerlichkeit einer gutmenschlichen Seele. Sein Protagonist Bernward Thiele hat eine sichere Anstellung bei der Jugendhilfe des Landkreises‚ wo er sich um Fälle von Gewalt‚ Willkür und sexuellen Übergriffen gegen Kinder und Jugendliche in deren Familien kümmert. Seine Erstarrung in politisch korrekten Denkmustern‚ gepaart mit der Unterwürfigkeit seiner feministisch-ökologistischen Ehefrau gegenüber‚ macht es ihm unmöglich‚ das Drama zu erkennen‚ welches sich in seiner eigenen Familie entwickelt. Sein Sohn Justus stellt die Dogmen des sozialpädagogischen Vaters zunehmend infrage und droht an den Antworten‚ die er findet‚ zu zerbrechen. Es ist Thiele unmöglich‚ per kreatürlicher Liebe‚ Herzenswärme und echter Zuwendung Zugang zu Justus zu finden. Diese Eigenschaften sind längst von den Gewißheiten seiner sozialpädagogischen Selbstgerechtigkeit verschüttet worden. Sowohl Thiele als auch seiner Ehefrau bleibt daher kein anderer Ausweg‚ als den Sohn endgültig zu brechen.
Katsouros wählt als Erzählrahmen einen einzigen Tag. Den Kapitelüberschriften des Romans stellt er jeweils eine Uhrzeit voran. Die Geschichte beginnt mit »06:00 Erwachen« und endet am nächsten Morgen mit »03:00 Frieden«. Er schickt den Leser also auf eine 21-stündige Reise durch die deformierte Psyche eines Sozialpädagogen‚ der an sich‚ seiner Berufswelt‚ seiner Frau‚ seinen Träumen und seiner unüberwindlichen Feigheit scheitert. Dabei sorgt er beim Leser für so manches Déja-vu-Erlebnis. Sehr präzise gibt er in den Dialogen den Duktus eines rotgrünen Spießbürgertums wieder‚ mit dem in Deutschand jeder seine Bekanntschaft gemacht hat. So läßt er seinen Protagonisten niemals jemanden mit Namen ansprechen‚ ohne ihm ein vorangestelltes »Du« in den Mund zu legen. »Du‚ Kari … « und »Du‚ Justus…«. Ständig läßt er Thiele von Konsens und Grenzüberschreitungen reden‚ zeigt selbstauferlegte Denkverbote‚ die der Sozialpädagoge vor sich rechtfertigt‚ indem er die Dinge für »ausdiskutiert« erklärt.
Dinge‚ die »ausdiskutiert« sind‚ haben zu einem »Konsens« geführt‚ welcher dann eine »Grenze« markiert‚ die nie wieder »überschritten« werden darf‚ da solches eine »Regelverletzung« darstellt‚ was wiederum als das schlimmste überhaupt zu begreifen ist‚ da ein »friedliches Miteinander« nur durch das strikte Einhalten von Regeln zu garantieren sei‚ die man sich im Gespräch »gemeinsam erarbeitet« hat. Katsouros läßt seinen Protagonisten Thiele nicht einen einzigen Gedanken darauf verschwenden‚ daß diese Regeln zumeist recht despotisch zustande gekommen sein könnten.
Allerdings schickt Katsouros seinem Sozialpädagogen Bernward Thiele eine Reihe von Plagegeistern. Sie begegnen ihm meistens in seinen Tagträumen. Die beinhalten immer wiederkehrend einen unendlich langen‚ in fahles Licht getauchten Korridor mit einer Flucht von barocken Zimmertüren‚ die sich links und rechts endlos aneinanderreihen. Dieser Korridor ähnelt dem desjenigen Stockwerks im Landratsamt‚ wo Thiele sein kleines Büro hat. Sowie er in seinen Tagträumen das kleine Büro verläßt‚ begegnet er den Plagegeistern auf diesem Korridor. (Es sei dem Rezensenten gestattet‚ sein Bedauern darüber zu äußern‚ daß Katsouros´ Roman nicht unter dem Titel »Der Korridor« erschienen ist.) Einer dieser Plagegeister heißt Alfredo und ist in Thieles Gefühlsschubladen unter »Freund« einsortiert. Ein widerlicher Freund. Thiele haßt ihn. In seinen Kreisen nennt man Gestalten wie Alfredo einen üblen Macho. Und genau dieser Alfredo spielt sich zu Thieles Gewissen auf. Katsouros gelingt es meisterlich‚ den Aberwitz offenzulegen‚ der jener innerweltlichen Argumentation zugrunde liegt‚ mit der Thiele Alberto unschädlich zu machen versucht. Aber es gibt noch andere Plagegeister. Gisela zum Beispiel‚ eine sinnenfrohe‚ lebenslustige Kollegin‚ Objekt von Thieles sexuellen Begierden‚ die für Thiele trotz ihrer Geneigtheit‚ ein Techtelmechtel zu beginnen‚ unerreichbar bleibt‚ da er sich aus dem Gefängnis seiner feministischen Gewißheiten nicht befreien kann.
Sehr gelungen ist Katsouros die dramaturgische Zuspitzung auf das Ende der Geschichte hin. In den Abendstunden beginnt sich ein familiäres Drama um Justus zu entwickeln‚ das auf eine Tragödie hinausläuft. In immer wilderen und immer wirrer werdenden Bildern und Phantasien‚ losgelöst von Ort‚ Zeit und Raum‚ implodiert Thieles Welt. Der Leser schließt den Roman mit der Vermutung‚ daß sich sowohl Thiele als auch Justus entleibt haben müssen. Sie treffen den geliebten Großvater von Justus wieder‚ verstorben vor Jahren. Justus durfte als kleiner Junge nicht Abschied nehmen von dem Toten. Es hätte ihn traumatisieren können.
Katsouros´ »Der Fall des Sozialpädagogen Bernward Thiele« ist trotz seines bisweilen etwas spröden Sprachstils begeisternd. Daher: Dringende Leseempfehlung!

Katsouros‚ Nikolaos: Der Fall des Sozialpädagogen Bernward Thiele. Roman. 2015. 266 S. ISBN 978-3-944064-29-1 Telesma Gb. 19‚80 €

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