Wilder Kaiser
(Wilhelm Castun)

Von Kleinmütigen ist zu vernehmen‚ die Erschließung der Erde sei heute total und es gäbe keinen Ort mehr‚ der vom Gewimmel banalen Geschäftes verschont sei. Aber im Gebirge ist es heute nicht anders als zu Nietzsches Zeiten. Im ganzen Kaisergebirge‚ dessen höherer Teil der "Wilde Kaiser" heißt‚ gibt es nur eine einzige Aufstiegshilfe‚ den Sessellift zum Brentenjoch‚ sonst ist man überall auf Schusters Rappen unterwegs. Und man begegnet nur Menschen‚ die ebenso tun.
Daß Anblick‚ Luft und Anstrengung der Berge euphorisch wirken können‚ ist seit alters bekannt und oft beschrieben worden. Auch auf diesem Felde findet sich jede Generation neu. Der Merseburger Dichter ist als Musiker vor allem durch Auftritte seiner Bands zwischen Neofolk und Neoklassik bekannt. Nach jahrelangem Aufenthalt in Rußland versuchte er sich in seiner Heimat als Bildender Künstler im Galeriebetrieb. Er mußte bitter erfahren‚ daß ihm hier nicht weniger als in der Musik der Neid der Kollegen im Gewand der politischen Diffamierung entgegenschlug. Mögen die Techniken und Mittel‚ die er in der Graphik nutzt‚ oberflächlich betrachtet "zeitgemäßer" erscheinen‚ das Spatzenheer verteidigte seine Pfründe gegen den Adler am Himmel mit Lärm und Intrige.
Inwiefern ist Uwe Nolte ein Adler inmitten der kleinmütigen bundesrepublikanischen Literatur? Gewiß nicht mit hochtrabendem Getue oder einer Arroganz‚ wie sie eher bei den moralisierenden Gutmenschen anzutreffen ist. Das Kennzeichen des Adlers ist das Ruhen in sich selbst. Dem mag das unstete Wechseln des Lebensortes und auch des Metiers widersprechen‚ zuletzt auch die Flucht in die Berge. Aber man spürt es sofort‚ wenn die leisen‚ oft sehr behutsamen‚ aber immer wortgewaltigen Verse des Dichters erklingen. Sofort ist der faule Zauber gebannt‚ der Spruch des Angelus Silesius "Mensch werde wesentlich!" scheint erfüllt.
"Plötzlich das Wetter sich wendet‚
Dunst steigt‚ wir schwanken – wieso
Unsere Pilgerfahrt endet:
Wo sind‚ Maria‚ wir‚ wo?"
Das Erlebnis dieser Strophe ist nicht ungewöhnlich für den Bergsteiger‚ es ist nicht ungewöhnlich für jeden Menschen‚ der authentisch in seiner Gefühlswelt ist. Daß es wie ein Blitzstrahl berührt‚ liegt an der virtuos gemeisterten Form. Man könnte allein über diese eine Strophe vielerlei zum Rhythmus und zum abgestuften Reim anmerken‚ aber der Leser spürt das Gelungene der Komposition sofort.
Noltes Hohelied an die Gebirgswelt Tirols hat überall einen stark transzendierenden Zug. Maria‚ die Geliebte und Bergsteiger-Gefährtin‚ berührt sich und wird verwechselbar mit der Heiligen in kleinen Kapellen‚ die sich trotzig in der vor- und übermenschlichen Landschaft zeigen. Ist dies ein unerlaubtes Spiel? Aber wenn ja‚ warum geben dann Eltern ihren Kindern die Vornamen von Heiligen? Sie tun es‚ weil der Mensch das Übersinnliche immer nur durch das Sinnliche erfahren kann. Und diese Erkenntnis ist die Voraussetzung aller Dichtung. Nur durch die irdische Liebe ist die himmlische ahnbar‚ nur durch das irdische das himmlische Glück. Im Buch finden sich Verse‚ die Frömmigkeit ausstrahlen:
"Nichts bleibt dir verborgen‚
Wie du dich auch gibst:
Dir entsteigt der Morgen
Gottes‚ weil du liebst!"
Der Wanderer erfährt aber nicht nur den Gott des Himmels und der Liebe. Der Steinbock springt über eine Kuppe‚ und zum Dichter spricht das Herz des Wilden Kaisers. Noltes Naturmystik ist kein barockes Dekor‚ sie ist innig und abgründig. Den Bergsteigertagen gesellen sich prophetische Träume. Das ganze Buch zeigt ein intensiviertes Leben‚ nicht im Sinne einer Kurzatmigkeit‚ sondern als Fülle‚ die Kargheit der Bergwelt als Schlüssel zu gesteigerter Wahrnehmung.
Freilich ist das Gedichtbuch keine Idylle. Stadtleben und bürgerlicher Existenzkampf sind aus dem Zentrum verbannt‚ aber nicht aus der Verswelt. Die Ukraine-Krise und der selbstzerstörerische deutsche Pazifismus sind ebenso anwesend wie die gestürzten Gefährten manches musikalischen Aufbruchs. Unter den vielen Perlen dieses Gedichtbandes liegt mir eine besonders am Herzen: "Alter Türsteher". Dieses Gedicht zeigt beispielhaft wie sich Größe und Tragik‚ Stolz und Zerknirschung auch in banalster Figur finden lassen‚ wenn man mit der Genauigkeit des Dichters beobachtet‚ deutet‚ ahnt und andeutet. Andeutung ist eben nicht etwas Ungenaues. Die Annäherung ist Verdeutlichung noch im Undeutlichsten‚ die zeigt‚ daß gerade das deutlich Scheinende allgemein unzureichend gedeutet wird:
"Wer gleicht ihm? wer wacht an der Pforte
Zum Glück‚ zu Verfehlung und Wein‚
Harrt nachts vor erkorenem Horte‚
Verkündet die magischen Worte:
Verschwinde‚ du kommst hier nicht rein!"
Auch vor dem Nolteschen Vers steht ein Türsteher wie vor jedem Gedicht. Es ist mit Kunstwerken nicht anders als mit Frauen‚ ohne Mühe wird nur Wertloses erobert. Wer nur Liedtexte kennt‚ wird merken‚ daß die Schwelle hier höher gelegt ist. Ein Rezept‚ wie man am Türsteher vorbeikommt‚ gibt es nicht. Aber der Saal ist voll. Es haben also recht viele geschafft.
Mancher bemängelt‚ die vielstrophigen Gedichte seien oft zu lang und würden gewinnen‚ wenn man diese oder jene Strophe striche. Man kann das so sehen. Aber diese Kritik hat auch viel mit der Ungeduld unserer Zeit zu tun. Wir wollen den reinen Ertrag‚ und zwar sofort. Da spielt der Dichter nicht mit. Er führt uns nicht im Sessellift zum Gipfel‚ sondern auf Umwegen‚ die nicht immer die bequemsten scheinen. Aber vielleicht begrüßte uns der Gipfel schal und reizlos‚ hätten wir nicht am Wegrand so manches Kräutlein gesammelt und mit dem Schweiß auf der Stirn so manche Scheuklappe abgestreift.

Nolte‚ Uwe: Wilder Kaiser. Gedichte. 2014. 103 S.‚ 2 Abb. ISBN 978-3-944064-28-4 Arnshaugk Gb. 15‚– €

Zum Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift