Leipzig im Kommen und Gehen
(Alexander Blöthner)

Über den Mythos Leipzig und den Mut seiner Bewohner zur Wendezeit ist viel geschrieben worden. Als Erklärung dafür wird einerseits gern die besondere Mentalität der Leipziger angeführt. Sir Peter Ustinov hielt in diesem Zusammenhang nicht die Stadt‚ sondern ihre Bewohner für das Wunder. Andererseits ist erst auf den zweiten Blick zu erkennen‚ warum gerade die Bewohner Leipzigs zu Impulsgebern der politischen Wende geworden sind. Dieser zweite Blick gilt der Stadt selbst‚ ihrer bisherigen Entwicklung‚ vor allem aber ihrer Zukunft‚ die sie im Herbst 1989 noch hatte oder nicht mehr hatte:
Noch im Jahre 1800 keine 40.000 Einwohner zählend‚ gehörte Leipzig dennoch zu den bedeutendsten Städten des Reiches. An ihrer durch Verlagswesen und Buchhandel entstandenen »Meinungsmacht« kam die große Politik nie vorbei. Ihre Bürger ließen sich nie so behandeln wie man es sonst mit Untertanen gewohnt war.
Während der Gründerzeit um das zehnfache gewachsen‚ deutete zunächst alles darauf hin‚ daß auch Leipzig bald in den Kreis der Millionenstädte aufsteigen würde. Es war die Zeit der großen‚ europaweit publizierenden Verlage. Industrielle‚ wie Karl Heine verkauften ihren Mitbürgern den Traum von der Seestadt und wußten allein mit dem Abraum der zu diesem Zweck ausgehobenen Kanäle‚ klug in zuvor billig erworbenes Sumpfland eingebracht‚ auf dem Grundstücksmarkt Millionen zu machen.
Indem sich Geld wie Wasser verhält und sich stets dort ansammelt‚ wo schon welches ist‚ war das von zahlreichen Gewässern durchzogene Leipzig eine Stadt‚ die man wohlhabender nicht nennen konnte. Die erste Kleingartenanlage‚ das erste Freischwimmerbecken‚ die erste Mustermesse und viele andere Innovationen traten von hier ihren Siegeszug wenn nicht in die Welt‚ dann zumindest durch Deutschland an. Zunächst schien es als würde es immer so weiter gehen. Stadtplaner hatten bereits das »Sächsische Paris« vor Augen und dafür schon einmal den größten Bahnhof der Welt gebaut. Aber Bäume wachsen nun einmal nicht in den Himmel. Durch das Hereinbrechen des Ersten Weltkrieg im Aufstieg gebremst‚ begann spätestens mit der Verfolgung der Leipziger Juden und der Zerschlagung ihrer zum Teil aus ganz Europa hier zusammenlaufenden Handelsnetzwerke [ein Drittel des Weltaufkommens an Pelzen war auf dem Brühl umgeschlagen worden] der Niedergang‚ dem mit der Enteignung und der Vertreibung unzähliger Leipziger Industrieller und Gewerbetreibender nach 1945 ein weiterer Tiefschlag folgen sollte. Innerhalb von 20 Jahren‚ zwischen 1933 und 1953‚ waren wirtschaftliche Strukturen zerstört worden‚ die zum Teil Jahrhunderte gebraucht hatten‚ um zur Blüte zu gelangen. Mit dem Weggang der Industriebarone und ihrer Vorarbeiter verlagerten sich auch ihre Netzwerke vornehmlich in die bisher zumeist agrarisch geprägten süd- und südwestlichen Gebiete der Westzone. Zwar blieb das Gros der Produktionsstätten‚ von den Besatzern mehr oder minder demontiert‚ erhalten; noch gab es genügend Tatkraft um die Produktion wieder in Gang bringen und auf einem gewissen Stand zu halten. Das einstige Niveau aber konnte nie wieder erreicht werden.
Der nächste Tiefschlag für Leipzig kam mit der endgültigen Ausschaltung des freien Buchmarktes in den 1950er Jahren. Von über tausend mit dem Druckereiwesen verbundenen Betrieben‚ davon über die Hälfte Verlage‚ wurden die meisten zur Abwanderung‚ die verbliebenen zur Anpassung gezwungen. Strenge Zensuren behinderten jeden schriftstellerischen Freigeist. Fallweise wurden selbst unpolitisch agierende Autoren und Verlage stigmatisiert und kaltgestellt‚ ohne das jemals zu erfahren war‚ aus welchem Grund. Das Zentrum des deutschen Buchmarktes verlagerte sich nach Süddeutschland. Die einst europaweit angesehenen Leipziger Messemacher hatten sich gleichfalls »in den Westen« zurückgezogen. Für die Märkte der sozialistischen Länder blieb die Leipziger Messe zwar weiterhin führend; doch die Weltgeltung von einst war dahin. Bis heute kann keine noch so teure an den äußersten Stadtrand gedrängte »Neue Messe« diesen Verlust wieder aufwiegen‚ wird sie doch zum Großteil von Spezialisten betrieben für die Leipzig bestenfalls die zweite Wahl gewesen ist.
Bis 1989 rauchten in Leipzig die Schlote. Die Bedeutung der Stadt für den Wirtschaftskreislauf des Ostblocks war zu wichtig. Umweltverschmutzungen bisher unbekannten Ausmaßes wurden dafür in Kauf genommen. Die Spitzen bildeten die Schlote der Heizkraftwerke. Mangels Alternativen ließen sie das reiche Braunkohlevorkommen rund um die Stadt in Rauch aufgehen. Nachdem über 70 Dörfer und kleinere Städte den unermüdlich sich in den Boden hineinfressenden Abraumbaggern zum Opfer gefallen waren‚ verbreitete sich in Leipzig ein merkwürdiges Gerücht: Die größten und reinsten Braunkohlevorkommen befänden sich unmittelbar unter dem Stadtzentrum‚ weswegen in den administrativen Stäben bereits die Devastierung der Stadt Leipzig geplant sei. Scheinbare Anzeichen dafür waren überall zu sehen. Ungeachtet des kollabierenden Wohnungsmarktes leistete sich die SED Anfang der 70er Jahre den Luxus‚ rund um das neu errichtete Gästehaus des Ministerrates ein ganzes Wohnviertel niederreißen zu lassen‚ angeblich‚ damit man von dort eine bessere Rundumsicht habe.
Jahrzehntelang war für den Erhalt der Bausubstanz in der Stadt kaum etwas getan worden. Ganze Straßenzüge fielen in sich zusammen. Zahlreiche Häuser waren nur noch in den mittleren Etagen bewohnbar.
Düstere Fassaden und der bedenkliche Erhaltungszustand tausender vormals überaus prächtiger Gründerzeithäuser ließen Leipzig bald in morbidem Glanz erstrahlen‚ der bestenfalls in der europäischen Wave-Gotic-Szene Bewunderung fand.
Verschärfend auf die Wohnsituation wirkte sich im Jahre 1988 eine Initiative des Politbüros der SED aus‚ das Gros der ohnehin schon unterbesetzten Leipziger Baukolonnen nach Berlin zu entsenden‚ damit die Hauptstadt zum 40. Jahrestag der Republik umso heller erstrahlen möge.
Der weitere Verfall des Wohnumfeldes‚ die Furcht vieler Mieter aus ihren zuvor mühsam erkämpften Wohnungen wieder ausziehen zu müssen‚ mag in diesen Tagen die Leipziger mit dazu bewogen zu haben‚ endlich einen Schlußstrich zu ziehen.
Dabei hätten es die gerade leutselig in Berlin versammelten Spitzen des revolutionären marxistisch-leninistischen Proletariats wissen müssen: Wenn der Lebensstandard der Menschen akut bedroht ist und sie noch die Kraft zur Gegenwehr haben‚ dann ist die Revolution nicht weit. Überspitzt kann man daher sagen: Der überzogene – zu großen Teilen auf Kosten Leipzigs geschaffene – Glanz zum 40. Jahrestages der DDR ließ dieses Jubiläum somit zum letzten werden.

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