Über Schnee und Geschichte
(Dieter Wolf)

Summa summarum: Ein Geröllfeld mit einer ganzen Reihe sehr schöner Edelsteine unter nördlichem Himmel‚ verteilt auf 335 Seiten. Der Leser ist oft angehalten sich zu entscheiden‚ soll er Schachts Befürchtungen teilen oder hoffen‚ er habe nicht recht? Den einen wird es leichter fallen‚ den anderen schwerer. Manche Leser werden womöglich bei bestimmten Passagen eine heimliche Freude empfinden‚ die heimlich bleibt‚ weil sie im Refugium des Verborgenen siedeln muß‚ aus deutscher Tradition heraus. Es handelt sich um Fragmente‚ Naturbeschreibungen‚ Gedankensplitter‚ Aphorismen‚ Variationen‚ Beobachtungen und Analysen über Gott und die Welt‚ vor allem aber auch über den Zeitgeist. Das Buch beginnt mit dem 11. Januar 1983 und endet mit Aufzeichnungen vom 20. Dezember 2011. Der Leser lernt den Dichter‚ Philosophen‚ Journalisten‚ Mystiker‚ Melancholiker‚ Gottsucher und politischen Theoretiker in resignativen und kämpferischen Phasen kennen‚ wobei die letzteren deutlich überwiegen. Mit spitzer Feder gegen den Zeitgeist plädiert er für politische und theologische Revolten und erinnert an Heidegger: »Der Denker verweilt in der Nähe des Streithaften.« [S. 170].
Wer ist Ulrich Schacht? Seiner Mutter wird die Liebe zu einem russischen Offizier‚ Wladimir Jegorowitsch Fedotow‚ zum Verhängnis. 1950 wurde Wendelgard Schacht von einem sowjetischen Militärtribunal zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Im Frauengefängnis Hoheneck in Stolberg im Erzgebirge wurde ihr Sohn Ulrich geboren‚ der bei Pflegeeltern in Wismar aufwuchs. Als Theologiestudent verfaßte er provozierende Texte und wurde wegen »staatsfeindlicher Hetze« zu sieben Jahren Haft verurteilt. Vom Westen freigekauft‚ studierte er Politikwissenschaften und Philosophie und arbeitete danach als Journalist und Redakteur. Er erhielt Literatur- und Journalistenpreise. Seit 1998 lebt er »im Exil« in Schweden. Ulrich Schacht gehört der Evangelischen Bruderschaft St.-Georgs-Orden an. Die Bruderschaft ist seit dem Jahr 2000 in Erfurt beheimatet. Schacht leitet die Bruderschaft im Range eines Großkomturs. Als Autor ist er u. a. Mitglied des P.E.N.-Clubs.
Am 1. November 1989 schreibt Schacht: »Das Bekenntnis zur Nation ist nicht Distanzierung vom Fremden‚ sondern Hinwendung zum Eigenen. Es meint‚ human grundiert‚ nicht Exklusivität‚ sondern Bereicherung‚ die auch dem Anderen nützt.« [S. 13]. Und am 4. Dezember 1989 resümiert er: »Deutschland erlebt sein zweites 45. Zum Glück nur in einer Hälfte.« [S. 20]. Möglicherweise war dies aber voreilig gedacht‚ denn dies blendet den Souveränitätsdefekt aus‚ der Anblick des Ernstfalles ist bislang nur ausgeblieben‚ der globale Ausnahmezustand jedoch gerade dabei‚ an die Tür zu klopfen. Später schreibt Schacht: »Man gibt seine Souveränität nicht einfach ab zugunsten einer supranationalen Illusion‚ die sich beim ersten Unwetter aufzulösen beginnt. Die Nation ist nichts Heiliges‚ gewiß‚ aber sie ist etwas Wesentliches: eine Identitätsquelle‚ ohne die wir emotional verdursten würden.« [S. 76]. Längst aber wurde nicht nur für erheblichen Wassermangel gesorgt‚ sondern auch für eine stetige politische Verzwergung in den eigenen Reihen‚ dies scheint einem Anpassungsgesetz der Natur zu entsprechen: Kleine brauchen weniger. Schablonenhaft läßt sich sagen‚ in der ersten Hälfte des Buches ist der Autor viel auf Reisen und genießt Privilegien‚ in der zweiten Hälfte wird er richtig wütend angesichts der »one-world-Konzepte«‚ und dennoch scheint er zu schwanken zwischen genauer philosophischer Analyse und slawischem Traum. Schweden wird dann zur gefühlten Mitte zwischen Deutschland und Rußland. Zudem erinnert er sich an einen großen Amerikaner: »Twains Satz: ‚Wenn du merkst‚ daß du zur Mehrheit gehörst‚ wird es Zeit‚ deine Einstellung zu revidieren’‚ zielt auf eine Praxis‚ für die man sich nicht entscheiden kann. Man kann sie nur leben wie natürlichen Adel: selbstverständlich und mit allen Konsequenzen.« [S. 138]. In einer Zeit‚ in der alle Kollektividentitäten nacheinander aufgehoben werden sollen‚ ist es daher erfrischend zu erleben‚ wenn Schacht der selbsternannten Elite mit dem omnipräsenten Hang zur allumfassenden Mitte‚ die Politik durch Ethik und Ökonomie ersetzen will‚ den Spiegel vorhält. Die Vokabeln »global« und »totalitär« sind für Schacht Synonyme: »Aber Globalisierung ist totalitär‚ und deshalb ist jede Form des Widerstandes dagegen gerechtfertigt‚ außer der marxistischen. Sie ist selber totalitär‚ und ihr antikapitalistischer Habitus Maskerade im Rahmen eines Erbstreits.« [S. 149].
Über die Klimaveränderung schreibt er Folgendes: »Der trommelfeuerartig verkündete Endkampf gegen die angeblich von Menschen gemachte globale Klimaerwärmung ist der neueste Versuch der derangierten Aufklärungskirche‚ mit den Mitteln totaler Propaganda‚ deren harter Kern kühl kalkulierte Schreckensdemagogie ist‚ politischen Aberglauben zur Praxis zu bringen und begründetes Wissen zur Strecke.« [S. 171].
Schacht hat einen sehr genauen Blick auf Sprache bei persönlichen Erinnerungen und Rechtfertigungsversuchen. Er zitiert Uwe Tellkamp [Über die DDR als Literaturstoff‚ FAZ 16.08. 2007]: »Je ferner dies Ländchen im Maelstrom aus Zeit und Geschichte sinkt‚ desto mehr wird es‚ glaube ich‚ Züge eines Turmbaus in Atlantis annehmen.« Schacht kontert: »In einem ‚Ländchen’ ist nichts hart‚ brutal‚ verbrecherisch. In einem ‚Ländchen’ tanzt man vielmehr ‚Tänzchen’‚ pflanzt ‚Pflänzchen’‚ reißt ‚Witzchen’. Man schwenkt ‚Fähnchen’ auf ‚Demonstratiönchen’ und macht gelegentlich dagegen ein ‚Oppositiönchen’. Oder flieht und fängt ein ‚Böhnchen’«.
Der gegenwärtige Protestantismus ist für Schacht »nur noch ein dürftiger Markt der Möglichkeiten‚ auf dem spirituelle Wassersuppen feilgeboten werden.« [S. 175]. Diesem Thema widmet sich Schacht in seinem Buch mehrfach. Den real existierenden Protestantismus beschreibt er folgendermaßen: »Übrig ist eine Art Kirchenruine‚ in der jeder Pastor Papst ist‚ Bischöfe machtlose Grüßauguste und synodale oder kirchenamtliche Verlautbarungen sich kaum noch von politischen unterscheiden‚ vor allem in ihren politisch-korrekten Absurditäten und linksseligen Verstiegenheiten.« [S. 274]. Immerhin gratuliert Gauck ihm zum Geburtstag‚ dies hat etwas Beruhigendes. Es wäre ungerecht‚ hier vergleichend an das einstmals gute Verhältnis von Gerhard Schröder und Horst Mahler zu denken. Ulrich Schacht ist keinesfalls ein Horst Mahler des Protestantismus! Er ist und bleibt ein unbestechlicher Wahrheitssucher‚ der bereit ist‚ jede Konsequenz auf sich zu nehmen.
Im Hinblick auf den Nahen Osten erscheint er in seinen Aufzeichnungen jedoch mehr als der Glaubende und weniger als der Denkende‚ was durchaus legitim ist. In der Geschichte gab es immer eine zeitlose Spannung zwischen Athen und Jerusalem im Hinblick auf die verschiedensten Implikationen‚ eine Spannung‚ die fruchtbar war für den ideengeschichtlichen Diskurs.
Mitunter ist zu beobachten‚ wie sich fundamentale Antipoden des Philosophierens wechselseitig durchdringen und dabei ungeahnte politisch-theologische Probleme entfalten. Das esoterische Moment trifft mit dem exoterischen Moment zusammen. Die Frage ist dann‚ welches Thema den Mittelpunkt bildet. Das »Ewige« ist ein schwer in die aktuelle Politik zu transformierender Terminus. Man könnte dies interpretieren‚ aber dazu müßte man im Exil leben. Hinzu kommt die Verhaltenheit‚ die Zurückhaltung der modernen Philosophie im Hinblick auf die Rede vom »Ewigen«‚ und dies hat nicht nur einleuchtende erkenntnistheoretische Gründe.
Einer bundesrepublikanischen Mythenbildung tritt Schacht schroff entgegen. Zum Thema Selbst-Satrapisierung schreibt er am 23. Januar 2008: »Das politische Personal der deutschen Politik vollendet in diesen Jahren den Typus einer neuen Satrapie: Es ist ‚Auge’ und ‚Ohr’ eines Großkönigs‚ den es als Herrscher‚ wie nach 1945 noch in Gestalt der Alliierten‚ inzwischen längst nicht mehr gibt. Aber noch immer erbringt es Tributleistungen und stellt Heereskontingente. Das erinnert zum einen an Comic-Figuren‚ die‚ bevor sie in den Abgrund stürzen‚ noch eine ganze Weile durch die Luft strampeln‚ zum anderen jedoch an geköpfte Hühner‚ die einfach weiterlaufen‚ obwohl sie schon tot sind.« So ist es auch kein Wunder‚ daß für Habermas‚ den die Zeit einst zum »Hegel der Bundesrepublik« ernannte‚ nur Sarkasmus bleibt: »Hegel war aber inspiriert und Inspirator in einem; Habermas dagegen ist allenfalls ein klirrender Wortmechaniker‚ dessen Gedankengebäude Investruinen gleichen‚ durch die der Wind pfeift.« [S. 186]. Treffend auch: »Was früher Kadavergehorsam war‚ ist heute Palavergehorsam.« [S. 188].
Zum Fortschrittsprojekt Biomasse schreibt er: »… nur über den Akt der Normenverwirrung kann der ins Ab-Normative zielende Umbau von Mensch und Gesellschaft‚ in Gegen- oder Übernatur also‚ in Angriff genommen werden. Das markanteste Beispiel zur Stunde sind die Dekonstruktions-Konstrukte aus den Brain-Laboratorien der Gender-Ideologie. Die Proklamation von mehr als zwei Geschlechtern […] zielt aber nicht auf Differenzierung‚ wie behauptet‚ sondern auf Vermassung‚ also Homogenisierung‚ in dem Sinne‚ dass die binäre Geschlechter-Biologie des Menschen‚ seine im Sinne des Wortes Grund legende Zweigeschlechtigkeit‚ die ontischer Standard und damit prästabilisiertes Sein ist‚ geleugnet und er selbst zur gesellschaftlich form- und damit beherrschbaren Biomasse ‚erklärt’ werden kann.« [S. 211].
Der große Komplex von Naturwissenschaften und Technik‚ der als notwendige‚ aber nicht hinreichende Bedingung von Herrschaft begriffen werden muß‚ war in der Antike noch nicht vorhanden. In der Scheu vor Werturteilen mag heute der Grund liegen für die Unfähigkeit der meisten Staatsrechtler und Politikwissenschaftler‚ Entwicklungen als tyrannisch anzuprangern. Dazu Schacht: »Ideologischer Liberalismus ist nicht deshalb gefährlich‚ weil er alles zulässt‚ sondern weil er das Chaos als Ordnung qualifiziert und die Unordnung als Freiheit.« [S. 212].
Am 8. Mai 2010 berichtet Schacht von einer »Sondermeldung aus dem Stalingrader Vorort Brüssel: EU-Führer Barroso hat am heutigen Tag unmißverständlich klargestellt: ‚Wir werden den Euro mit allen Mitteln verteidigen‚ was auch immer das kostet!’ Sogar das Datum paßt irgendwie.« [S. 245].
Schacht schreibt über die Kehre des modernen Denkens zur Unvernunft und zum Totalitären: »das wirklich Böse ist unauffällig‚ und das einzige verdächtige Anzeichen dafür‚ daß es auf dem Vormarsch ist‚ ist sein ständig ansteigendes Gerede vom Guten. Wer aber will schon gegen das »Gute« streiten?« [S. 260]. Ein solcher Vorwurf impliziert zweifellos Werturteile: »Man fragt sich […] warum das Land‚ das noch »Deutschland« heißt‚ periodisch immer wieder flächendeckend in die Hände von ideologischen Quacksalbern und politischen Alchimisten fällt. Wiedertäufernaturen des 20. und 21. Jahrhunderts‚ die offenbar ununterbrochen nur eines antreibt: permanent die Welt zu retten‚ und zwar die ganze‚ und auch noch genau zu wissen‚ wie das geht. Koste es‚ was es wolle.« [S. 279]. Die Tyrannenlehre schenkt uns stets neue Vorspiele zum Himmelreich. Schacht zitiert Ernst Jünger‚ u. a. die »Adnoten zum Arbeiter«: »Die Justiz folgt der Politik wie der Geier den Heerzügen. Mutig sind alle gegen den‚ der am Boden liegt.« [S. 323]. Die Theoreme des Ewigen scheinen in der Lage zu sein‚ ständig ihre Gestalt und Farbe zu wechseln: »Konsumenten aller Länder vereinigt euch!« Die »Religion des Totalen Marktes«. [S. 332] ist nicht die Sache von Ulrich Schacht‚ deswegen ist er auch fort.

Schacht‚ Ulrich: Über Schnee und Geschichte. Notate 1983-2011. 2012. 335 S. ISBN 978-3-88221-564-9 Matthes & Seitz Gb. 22‚90 €

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