Der Atem der Worte
(Dieter Wolf)

Die Jahrestagung des FDA Thüringen fand im Jahr 2011 vom 24. bis 26. Juni wie immer in Ziegenrück statt‚ zudem mit Gästen aus dem In- und Ausland und wohlwollend begleitet durch die Presse‚ die auch zur sonntäglichen Matinee zugegen war und über die Autorenlesungen im Saal des vorzüglichen »Hotel Schloßberg« in Ziegenrück berichtete. Das diesmalige Ausbleiben eines Lyrikerstreites‚ der ausführlich im »Lindenblatt« 2011 dokumentiert wurde‚ sowie die hohe Organisationskunst der Verbandsleitung in allen Belangen wirkten nicht nur palliativ‚ sondern durchaus euphorisierend. Ohne weiter auf Details im Protokoll der Jahrestagung einzugehen‚ sollen im Folgenden drei Ereignisse in der Erinnerung hervorgerufen werden: Die Anwesenheit von Gästen aus Polen‚ der Besuch des Wasserkraftmuseums in Ziegenrück und die wortgewaltige Lesung von Peter Gehrisch am Samstagabend. Jemand‚ der aus dem Ausland angereist ist‚ verdient‚ so gebietet es das Gastrecht‚ Vorrang. Man wundere sich also nicht‚ wenn ich dieser Begegnung im folgenden besondere Aufmerksamkeit widme.
Wer in Polen lebt‚ hat nicht unbedingt die gleichen Probleme und Sichtweisen wie andere in Deutschland‚ dennoch existiert eine große gemeinsame Schnittmenge. Über Deutschland und die Deutschen‚ über Polen und die Polen wäre viel zu sagen. Nach mehr als einem halben Jahrhundert Frieden ist es wenig hilfreich‚ in den Debatten die jeweilige Schuld als Palladium voranzutragen‚ als Vergangenheitsbewältigung verklärt moralisch aufzuladen‚ um sie als Instrumentarium für gegenwärtige Ziele benutzen zu können. Konstruktiver ist da schon auszurufen: »Es lebe Polen!«‚ »Es lebe Deutschland!« Wir befinden uns im 21. Jahrhundert. Gleichzeitig soll sich niemand veranlaßt sehen‚ bei heiklen Debatten seine Vorurteile geflissentlich an der Garderobe abzugeben. Vorurteile sind etwas ganz menschliches‚ oft sogar hilfreiches‚ aber sie verändern sich im Laufe der Zeit durch die Erfahrung. Die Konnotationsbreite des stehenden Begriffes »Polnische Wirtschaft« bleibt eben so lange bestehen‚ bis man vom Gegenteil überzeugt wird‚ dasselbe gilt für das Bild des deutschen Michel. Politische Korrektheiten zementieren eher festgefahrene Sichtweisen‚ wer sich ausspricht‚ kann sich besser verstehen. Zu all dem gehört die Erkenntnis‚ die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Wer eine fremde Sprache lernt‚ erkennt‚ daß Grammatik und lexikalische Bedeutung von Wörtern viel weniger eindeutig sind‚ als wir uns das oft wünschen. Es gibt Satzkonstruktionen‚ Redewendungen‚ Witze‚ Anekdoten‚ die wir ohne Hintergrund nur schwer verstehen können. Wer fließend eine andere Sprache spricht verändert sich. Jede Landessprache spiegelt ein anderes System von kollektiven Gedankenformen. Der Rhythmus und die Tonlage der Sprache bewegen unseren Geist und unsere Psyche stets auf ganz eigene Weise. Daher ist es angemessen‚ das jeweils Eigene hochzuschätzen‚ an das Eigene sich stets auch erinnern‚ was das jeweilige Volk der Welt Großes geschenkt hat. Dies kann dem Freiheitswillen der Völker nur dienlich sein. Friedrich Nietzsche schrieb‚ wir litten an einem historischen Fieber. Unsere Vergangenheitsinteressen machten uns zukunftsscheu. In diesem Sinne ist zu hoffen: Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft muß nicht von ewiger Dauer sein.
Am Samstag‚ dem 25. 06. 2011 ergab sich unter anderem die Gelegenheit‚ das äußerst sehenswerte Wasserkraftmuseum in Ziegenrück zu besichtigen. Der französische Dichter Victor Hugo schrieb einst: »Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee‚ deren Zeit gekommen ist.« Im Museum sind zu sehen: Wasserkraftmaschinen‚ Wasserräder‚ Turbinen‚ Elektrotechnik. 1965 wurde das Kraftwerk stillgelegt und dient seitdem als Museum und zeigt die Geschichte der Energiegewinnung aus Wasser. Beeindruckend ist ebenso das 26 m² große Landschaftsmodell zur Saale-Kaskade. Die Idee‚ mit Wasserkraft Elektrizität zu erzeugen‚ war genial‚ wurde zur Realität und veränderte auch das Leben zwischen Saale und Orla. Schon unsere Vorfahren verdankten ihr vielfältige Lebensvorzüge‚ alltagspraktisch‚ ökonomisch‚ politisch‚ wissenschaftlich und kulturell. Ohne Elektrizität wäre das Leben heute kaum vorstellbar. Zu den Folgeerscheinungen gehörte später die Telekommunikation‚ die bald darauf von drahtloser Kommunikation revolutioniert wurde. Damit ging ein Wunsch von archaischer Herkunftstiefe in Erfüllung‚ die Möglichkeit mit räumlich weit entfernten anderen ohne Zeitverzug in Verbindung treten zu können. Erfindungen kennzeichnen den Weg von den primitiven teleoptischen Systemen der Informationsübermittlung im Zeitalter der Aufklärung über das drahtleitungsabhängige Telephon‚ bis hin zu den technologischen Voraussetzungen des Internet. Erfindungen sind Entwicklungsschübe. Man denke hierbei allerdings auch an die telekommunikativ möglich gewordenen globalen Kapitalverkehrsströme‚ die in Sekundenbruchteilen die weltwirtschaftlichen Prozesse ihrer traditionellen Steuerung durch nationale Regierungen handstreichartig entzogen haben. Hochwirksame Informationstechnik trägt zur Auflösung der Nationalstaaten bei. Die elektronischen Kommunikationsnetze haben sich von den Verkehrsnetzen abgelöst; Berge‚ Meere‚ Steppen und Wüsten stellen kommunikationstechnisch keine Hindernisse mehr dar. Goethe schrieb Briefe‚ die lange unterwegs waren und fuhr mit der Kutsche durch das Saale- und das Orlatal. Arbeit‚ Freizeit‚ Einkauf‚ fast alles kann mittlerweile digital ausgeübt werden. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an unsere Mediennutzungskompetenz‚ da die Produkte des Fernsehens‚ der Finanzoligarchie‚ des Internet nicht unwesentlich zur Verblödung beitragen können. Das Kapital unterliegt nicht mehr der politischen Ökonomie: es spielt mit der politischen Ökonomie als einem Simulationsmodell. Und die Ratingagenturen spielen wie in einem Theaterstück mit den Regierungen Hampelmann. Lohn und Arbeit wurden entkoppelt. Wer viel arbeitet‚ kann nichtunbedingt einen angemessenen Lohn dafür erwarten. Wer spekuliert‚ kann hingegen sehr viel Geld »verdienen« mit dem Einsatz oft nur geringer Leistung. Andererseits sind wir Zeitzeugen des Umkippens aller Arbeit in den Dienst‚ eines Dienstes‚ der mehr und mehr mit einem Taschengeld entlohnt wird‚ was einem neuen Feudalismus den Weg bereitet. Und wozu dies alles? Warum trug die Elektrizität ihren Siegeszug samt ihren Folgeerscheinungen davon? Irgendeiner erklärte es so: Der Anfang des Dramas bestand darin‚ jemand wollte Licht in seiner Hütte haben‚ auf ganz bequeme Weise‚ weil er zu faul war‚ ständig den glimmenden Kienspan an seiner Deckenleuchte zu wechseln. Seit zwei Wochen versuche ich Peter Gehrisch in Polen zu erreichen. In der Zeit wäre ich ja mit dem Pferd nach Polen geritten und bereits wieder zurück im Orlatal und zwar mit Genehmigung meines Kurfürsten und des zuständigen schlesischen Piasten. Was nützt also unsere hochentwickelte Kommunikationstechnologie‚ wenn er nicht ans Telefon geht! Im Obergeschoß des Museums befand sich zu dieser Zeit eine Ausstellung mit Photographien eines Amerikaners‚ zumindest war es dem Namen nach zu vermuten: Wim Westfield. Wer in der Saalelandschaft beheimatet ist‚ verliert oft leicht den Blick für die Besonderheiten‚ weil sie alltäglich sind. Die meisten Aufnahmen bestanden aus Photographien – so glaubte ich zunächst‚ weil ich meine Brille vergessen hatte – von Wassernixen an der Saale‚ so erschien es mir. Ihr Bild ist tief eingewurzelt in die jahrtausendealten Mythen an den Ufern der Saale. Warum sonst sollte ein Amerikaner ausgerechnet hier seine Schnappschüsse zeigen? Wenn es nicht so wäre‚ dann handelte es sich ja um nichts weiter‚ als um die Photographien nackter Frauen‚ also nacktes Theater‚ eher Parodien des Mangels als der Naturwüchsigkeit in einer unverwechselbaren Heimat‚ dann ginge es mehr um Fragen der Vermarktung als um ein positives Versprechen. Jemand sagte Folgendes: Die ungefährliche Linie des Strumpfes und die ungefährliche Linie der Saale durch die Landschaft haben eines gemeinsam: Man kann sich täuschen! Alles kann sich in eine phallische Äquivalenz auflösen! Gewiß‚ gewiß! Unumstritten ist‚ der Schmuck der Saale besteht aus Uferbewuchs‚ mit seltenen Blüten‚ Formen‚ Farben und Düften. Der Schmuck der abgebildeten Frauen dagegen stammt genaugenommen aus dem Umkreis der Sklaverei: Ketten‚ Halsbänder‚ negritude Bräunung‚ Tätowierung‚ Peitschen‚ kombiniert mit Nacktheit. Man will uns einstimmen auf Feudalismus und Sklaverei. Auf den zweiten Blick war nun erkennbar‚ es ging hier typischerweise mehr um die Abstraktion politischer Ökonomie. Man stelle sich in Los Angeles eine Stripteasetänzerin auf einer Bühne vor‚ die am Ende ihrer Vorstellung einen Stöpsel aus ihrem Bauchnabel zieht und sofort zu einem kleinen Häufchen Plastikfolie zusammenschrumpft. Amerika war schon immer der weltgrößte Erzeuger heißer Luft‚ ein das Klima prägendes Land. Vorsichtshalber sah ich noch einmal mit einer ausgeliehenen Brille nach: Wim Westfield ist ein Deutscher und wohnt in Lübeck. Dies war ja in der Tat nun noch schlimmer: Es gibt kein europäisches Land‚ welches mehr amerikanisiert ist als Deutschland‚ in jedem anderen Land wollte man entweder Italiener‚ Spanier‚ Portugiese sein‚ selbst die Griechen wollten immer noch Griechen sein‚ nur in Deutschland war dies anders. Na gut‚ andererseits kannte ich den Mann ja auch gar nicht. Vielleicht waren das alles nur seine Freundinnen‚ die er photographiert hatte‚ beim Baden sozusagen.
Neben anderen las‚ wie erwähnt‚ am Samstagabend Peter Gehrisch aus seinem neuen Manuskript. Angemerkt sei hier u. a. auch‚ daß Gehrisch sich sehr verdienstvoll in einem seiner Bücher mit der Problematik des Übersetzens beschäftigt hat (»Poezja jako przeklad niewymownego / Dichtung als Übersetzung des Unsagbaren«‚ Edition Dom Vade-mecum‚ Jelenia Góra 2008 r.). Seit 1999 ist Peter Gehrisch verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift für Literatur und Kunst »Ostragehege«. Gemeinsam mit Renata Maria Niemierowska und Marek Sniecinski (Breslau) hat er 1999 das Projekt Orpheus / Orfeusz ins Leben gerufen. 2006 wurde ihm der Verdienstorden des Freistaates Sachsen verliehen‚ 2008 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Lwówek Slaski. Zwei Kulturen entfernen sich immer weiter voneinander‚ die literarisch-geisteswissenschaftlich geprägte Kultur einerseits und die Kultur und Sprache der Naturwissenschaften andererseits. Die Verständigung miteinander wird schwieriger‚ jedenfalls auf den ersten Blick. Jedoch die Vergegenwärtigung dessen‚ was ist‚ und dies läßt sich der Literatur zurechnen‚ erfolgt in letzter Instanz stets narrativ. Lebendige Worte atmen. Peter Gehrisch versteht es meisterhaft‚ den Atem der Worte hörbar und sichtbar zu machen. Selbst wenn man die Handlungsspielräume schnell wieder vergißt‚ der Atem der Worte bleibt in Erinnerung. In die kollektiven Gedankenformen der Sprache weben wir unsere eigene individuelle Art zu denken und unseren eigenen Atemrhythmus. Der Inhalt von Texten oder Gesprächen läßt sich verhältnismäßig leicht in eine andere Sprache übersetzen. Wir benötigen jedoch eine außergewöhnliche Sensibilität und Kunstfertigkeit‚ um Rhythmus und Tonlage auch nur annäherungsweise zu übertragen. Nur die Sprache der Dichtung darf sich heutzutage noch den Luxus eines eigenen Rhythmus erlauben. Dagegen haben in der reduzierten Sprache der Naturwissenschaften die nicht objektivierbaren Aspekte des Lebens keinen Raum. Rhythmus und Atem‚ Dynamik und Wandel‚ prägen die magische Schönheit der Sprache‚ denn sie ist ein organischer Kosmos von Bildern‚ Rhythmen‚ Pausen und Wiederholungen‚ ein lebendiges Wesen‚ welches uns auch dann berührt‚ wenn wir den Inhalt gar nicht verstehen. Die Sprache‚ genauso vielfältig‚ vielschichtig‚ hintergründig und vieldeutig wie jeder lebende Organismus‚ sie verbindet uns selbst mit dem Herzschlag der Welt‚ von der wir nur noch den Schatten eines Schatten kennen‚ mit ihrer längst versunkenen Vorstellungswelt. Begriffe sind geistige Organismen‚ mit denen wir Tag für Tag kommunizieren und die zu einem bedeutenden Teil unseres Wesens werden. Je lebendiger und vielschichtiger die Formen der Sprache sind‚ um so lebendiger und vielschichtiger ist die Welt‚ die wir durch unser Bewußtsein formen. Jeder Mensch formt die Welt mit seiner eigenen Sprache und er wird von der Sprache geformt‚ die ihn umgibt‚ ob er will oder nicht. Die Sprache der Naturwissenschaft und Technik entwickelt sich immer mehr zur Alltagssprache‚ dabei geraten wir in die Gefahr zu vergessen‚ daß die Form dieser Sprach- und Denkweise den bedeutendsten Teil unseres Lebens ausblendet‚ denn nur eine lebendige Sprache ist in der Lage‚ eine lebendige‚ dem Leben zugewandte Welt zu formen. Um die Sprache und damit die Welt lebendig zu halten‚ bedarf es der Dichter. Daß Sprache und Atem zusammengehören‚ gilt durchaus als offenes Geheimnis‚ doch sind es allemal vor allem die Dichter‚ die dieses Geheimnis der Welt nahebringen. Jeder Leser von Büchern ist ein Teil der Werke‚ weil er ihrem Kosmos seinen Atem nahebringt. Jede Geschichte kann in unserer Geschichte lebendig werden. Inwieweit sich eine gute Geschichte zu einem lebendigen Organismus entwickelt‚ hängt ebenso davon ab‚ wie sehr sie ihren Rhythmus mit dem Rhythmus unseres Atems verbinden kann. Beim Vortrag von Peter Gehrisch verselbständigt sich plötzlich der Text‚ er will etwas anderes‚ etwas Eigenes‚ er will er selbst sein‚ Gehrisch versucht‚ ihn nicht entkommen zu lassen‚ ein wilder Disput entwickelt sich‚ am Anfang erscheint es‚ als ob der Autor die Oberhand behält‚ aber je länger er dauert‚ um so mehr gelingt es den Worten sich freizukämpfen‚ es sind inzwischen einfach zu viele. Man sieht wie er kämpft‚ wie er sich beim Lesen gegen sie stemmt‚ zwei Dutzend hätte er noch zur Räson bringen können‚ aber nun scheinen sie ihn niederzuringen. Schweiß tritt auf seine Stirn‚ er ringt nach Atem‚ die Brille verrutscht. Es scheint‚ als würde er gleich vom Stuhl auf den Boden stürzen. Und da ist er‚ der Atem der Wörter‚ alle können ihn hören‚ der Fußboden wankt‚ für das windschiefe Haus im Tal sind all diese Worte zu viel‚ die Poetenstube kracht und ächzt an allen Ecken und Enden‚ plötzlich verrutschen einige Gläser auf dem Tisch‚ als hielte ein Pandämonium Einzug. Aber wahrscheinlich war nur jemand mit dem Fuß gegen den Tisch gestoßen. Die Worte machen sich davon‚ wohin auch immer‚ sie sind frei. Gehrisch ist am Ende‚ die Worte sind weg. Ein fast ängstlicher Applaus ist zu hören. Der Lyriker Uwe Lammla steigt die Treppe hinab‚ um zu rauchen. Nach wenigen Augenblicken ist der gesamte Ort in weißen Tabakrauch gehüllt‚ nur noch die Spitze des Kirchturms ragt aus dem Nebel heraus. Hastig werden die Fenster der Poetenstube geschlossen. Eben war noch der Atem der Worte zu hören‚ jetzt sind sie auf und davon‚ fast glaubt man‚ einer Apokalypse entkommen zu sein. Um Worte soll man nicht streiten! Dies ist natürlich leicht gesagt‚ vielleicht ist ja das völlige Gegenteil richtig‚ jedenfalls in bestimmten Situationen. Aber manchmal ist es auch eine Frage semantischer Zweckmäßigkeit‚ die Worte an ihrem gehörigen apokalyptischen Ort zu belassen‚ schließlich ist für jedes Wort in dieser Welt ein gewisser Platz vorhanden‚ oft wandern sie dorthin‚ wo sie sich am wohlsten fühlen‚ oder das meiste Geld verdienen‚ manchmal bleiben sie auch einfach da‚ wo sie gerade sind. Worte haben etwas durchaus menschliches‚ sie können abgehetzt sein‚ nach Atem ringen‚ verbraucht sein‚ sie können uns nerven‚ Worte können dumm sein. Schreckenswörter‚ so scheint es‚ sind zur Zeit weniger diskreditiert als Heilswörter. Literaturgeschichtlich spiegelt sich dies in der Utopiengeschichte. Seit George Orwell sind‚ im Gegensatz zur Zukunftseuphorie der Aufklärung‚ die Unheilsutopien dominant. Dies eröffnet der heutigen Politik großartige Vorteile. Man muß nicht mehr über ein zukünftiges besseres Leben nachdenken‚ sondern man sagt‚ die Leute können froh sein‚ wenn es nicht noch wesentlich schlechter wird‚ dann haben sie Glück. Verständigungen über Katastrophen und schlimmere Übel‚ die wir‚ wo es möglich ist‚ vermeiden sollten‚ lassen sich einfach leichter als Einvernehmen in Vorstellungen guten Lebens erzielen. Auf der anderen Seite ist Zuversicht unentbehrlich‚ ja unvermeidlich. In Lebenslagen‚ deren guter Ausgang ungewiß ist‚ kann die Zuversicht‚ ohne die wir es nicht vermögen würden‚ unser Wissen und Können zu mobilisieren‚ zum entscheidenden Faktor werden. Zuversicht lebt letztinstanzlich aus der Hoffnung‚ woher auch immer. Jemand sagt: »Ich werde in diesem Herbst keine Kartoffeln im Garten anbauen‚ weil ich zuversichtlich bin‚ es gibt nächstes Jahr noch welche zu kaufen‚ ich schreibe lieber noch ein Gedicht!« (Niemand baut im Herbst Kartoffeln an‚ nicht einmal die Russen haben dies nach der Oktoberrevolution versucht!) Daß für Lebensvoraussetzungen‚ die möglicherweise in einer globalen Zusammenbruchkrise knapper werden‚ Alternativen beschafft werden müssen‚ ist trivial. Noch nie wurde auf dem Lande so viel Holz gesägt wie heute‚ wer kann‚ kauft sich Gold- und Silbermünzen‚ die Baumärkte werden geplündert‚ man renoviert die Häuser‚ eine Mehrzahl sagt sich‚ bald ist das Geld ohnehin nichts mehr wert. Die Verkündungen der offiziellen Wahrnehmungen und der privaten Wahrnehmungen unterliegen einem schmerzhaften Spagat‚ ganz ähnlich wie in einer Diktatur. Visionen des Untergangs waren immer auch ein Element der Überlieferung. Allerdings haben wir es anscheinend gegenwärtig mit dem Versuch zu tun‚ den apokalyptischen Verheißungen versunkener Mythen mit Hilfe politischer Mittel zur Erfüllung zu verhelfen. Die Absicht‚ die Erde zum Himmel zu machen‚ endet höllisch‚ man erinnere sich an Sentenzen des Kommunismus. Nun versucht man es umgekehrt. Die religionsgeschichtliche Quintessenz des Totalitarismus begegnet uns nun aus der entgegengesetzten Richtung in Form der Globalisierung. Die Katastrophenfolgen ekstatischer Verschuldung werden mehr und mehr spürbar‚ weltweit‚ und führen zur Ermattung. Die Freiheit der Expression ekstatischer Befindlichkeiten ist in der modernen Welt stets auch in der Kunst deutlich geworden‚ man entsinne sich nur an die Malerei und Dichtung aus der Zeit der Weimarer Republik. Selbstzerstörerische Wirkungen sind zum Element moderner totalitärer Politik geworden. Überall erörtert man die Frage‚ was bietet den wirksamsten Schutz vor den Unheilsfolgen rationalitätsenthobener politischer Entscheidungen in der europäischen Kommissariatsebene. Das Wort Kommissariat‚ der Demokratie entbunden‚ wirkt allein schon unheilvoll. Ein Geist unverdrossener Nüchternheit und Logik scheint den Kommissaren fremd zu sein. Die völlige Desillusionierung wird so nicht lange auf sich warten lassen. Aristoteles schrieb: »Glück ist eine Nebenfolge sinnvollen Tuns.« Wie anstrengend ist es mitunter‚ eine weiße Seite mit angemessenen Sätzen zu beschreiben. Irgendwann ist das Buch fertig‚ und sein Anblick stimmt zufrieden. Wenn andere bekunden‚ sie hätten es gelesen‚ so freut man sich gewiß. Andererseits haben wir uns auch in derjenigen Wirklichkeit einzurichten‚ an der sich nichts ändern läßt. Nicht umsonst heißt es ja: Die Länge des Lebens‚ auf das man zurückblickt‚ spiegelt sich in der Länge der Zeit‚ die man bräuchte zu erzählen‚ was man hinter sich hat. Die Formen des Mißlingens sind ganz unabhängig vom Stand der Modernisierung und der Technik‚ sie ereignen sich nur auf unterschiedlichen Ebenen. Es geht darum‚ die Tür zur Welt der Ideen immer wieder neu zu öffnen. Es bedarf der Erfahrung und Aufmerksamkeit‚ um die Qualitäten der Ideen unterscheiden zu können. Die Tür entsteht beim Denken‚ und nur durch Denken läßt sie sich öffnen. Was ebenso zählt ist Intuition. Die Intuition ist der Teil des Denkens‚ mit dem wir Situationen als Ganzes erfassen‚ ohne über Einzelheiten nachzudenken. Intuitiv wurden nun Bierflaschen und Weinflaschen geöffnet‚ fast jeder hing noch selbst seinen Gedanken‚ Projekten‚ Ideen nach oder denen der anderen‚ und so prostete man sich zu. Das Wort »prosit« ist ja nichts weiter als eine lateinische Verbform im Konjunktiv und bedeutet nichts anderes als »es möge gelingen!« Einige hatten sich umgeschaut und sich über ihre Beobachtungen verständigt‚ eine Katastrophe‚ gar eine Apokalypse‚ würde ausbleiben‚ von allen Getränken war genügend vorhanden. Zu fortgeschrittener Stunde‚ bei anschwellendem Lärm‚ sagte irgendeine Frauenstimme »pst«. Das war ganz unzweideutig die Abkürzung von »prosit«‚ so als ob die Unterredungen aus einer Aneinanderreihung von Beschwörungsformeln bestanden hätten‚ um Dämonen auszutreiben. Wenn es darum geht‚ überkommene Gedankenformen mit Hilfe neuer Ideen zu verändern‚ ist die Intuition natürlich nicht ausreichend. Man muß in der Lage sein‚ sich denkend selbst in Frage zu stellen. Nur wer weiß‚ wie er selber denkt‚ kann alte Muster von neuen Ideen unterscheiden. Je besser man sich selbst kennt‚ desto leichter kann man ermessen‚ wie es einem am folgenden Morgen ergehen wird. Auch wenn sich im Gespräch mit anderen Autoren Atmosphären oder Stimmungen ändern‚ so gibt es doch meist Wertvolles zu entdecken. In diesen Augenblicken ist es wichtig‚ still zu werden‚ zu beobachten und dem gerade Wahrgenommenen Raum zu geben. Solcherlei Jahrestagungen sind keinesfalls Pausen im Denken‚ eher ihr Gegenteil. Unzählige Möglichkeiten für Ideen erfüllen die Welt‚ in einzelnen Geistern finden sie den Boden für ihre Entwicklung.
Am Sonntagmorgen findet die Matinee statt‚ klassische Musik steht am Beginn‚ die Musiker geben ihr Bestes‚ im Saal sind allerdings mehr Autoren als Gäste aus dem Ort versammelt‚ dies mag auch an der morgendlichen Stunde liegen. Gelesen wird trotzdem‚ mal mit mehr und mal mit weniger Gefühl für die vorgegebene Zeitlänge. Manche sagen‚ man muß Glück haben zu Lebzeiten gehört zu werden. Erst wenn die Leber versagt‚ man von einem unfahrplanmäßigen Autobus überfahren wird oder mit einem lauten Knall endet‚ so wie Heinrich von Kleist‚ dann wird man gehört. Dann käme jemand und würde sagen: »Na ja‚ was haben wir denn da!« Aber dies sind alles Legenden.

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