Die Sonne hat vier Ecken
(Dieter Wolf)

In dieser Biographie geht es um das tragische Schicksal des begabten Dichters Günter Ullmann‚ der auch als Musiker‚ Maler und Dissident in Erscheinung trat. Dies sei vorweggenommen: Es handelt sich um eine meisterhaft geschriebene Biographie‚ die den Leser sofort in den Bann zieht.
Als Dichter gerät Günter Ullmann in den Fokus der Staatssicherheit. Sein Freund Manfred Ibrahim Böhme in Greiz bespitzelt und verrät ihn; Ullmanns geheimste Gedanken‚ die er dem vermeintlichen Freund preisgibt‚ übermittelt dieser dem Geheimdienst. Günter Ullmann wird in den Verfolgungswahn getrieben und mehrfach in die Psychatrie eingewiesen. Bis 1989 entstehen vierzehn Buchmanuskripte nur für die Schublade. Für die Staatssicherheit war Ullmann lediglich ein Störfaktor‚ den es mit Hilfe Böhmes auszuschalten galt. Böhme ist eine mehr als schillernde Figur‚ er schmückt sich mit zahlreichen Legenden. In verschiedenen Nachschlagewerken ist noch heute vom jüdischen Waisenjungen die Rede‚ von politischer Haft‚ von mehreren Studienabschlüssen‚ vom SED-Austritt 1976 und fünfzehn Monaten U-Haft wegen staatsfeindlicher Hetze usf. Der Sachbuchautorin Christiane Baumann gelang es 2009 mit ihrem akribisch recherchierten Buch »Manfred ‚Ibrahim’ Böhme. Ein rekonstruierter Lebenslauf« (Robert-Havemann-Gesellschaft)‚ etwas mehr Klarheit in die Biographie zu bringen. Nach diesen Angaben kommt Böhme 1944 in Bad Dürrenberg zur Welt‚ er wächst zeitweilig bei Pflegeeltern und im Heim auf. Anerkennung sucht der Jugendliche in der Partei‚ die ihn mit achtzehn aufnimmt. Böhme lernt Maurer in den Leuna-Werken‚ arbeitet anschließend als Erzieher in einem Lehrlingswohnheim und wirkt als Propagandist. Später zieht Böhme nach Greiz. Böhme leitet einen Jugendclub‚ empfiehlt die Lektüre von Luxemburg und Liebknecht und ermuntert‚ sich mit Problemen und Widersprüchen des realen Sozialismus auseinanderzusetzen. Es ist die Zeit des Prager Frühlings. In einer erhalten gebliebenen Akte der Staatssicherheit schreibt Böhme später: »Als ich die Männer um Dubcek der miesesten Strategie bezichtigte […] entfachte sich ein Wortwechsel zwischen Ullmann und mir […].« Ullmann und seinen Mitstreitern wird vorgeworfen‚ sich mit einem faschistischen Putsch in Prag solidarisiert zu haben.
Ullmann schreibt später: »HIER / IN DIESEM VERHÖR / will man alles / außer der wahrheit / wissen // hier / in diesem Zimmer / hat jedes / ohr / eine lange leitung // hier in diesem haus / bleibt die wahrheit / immer / im keller«.
Im Laufe der Zeit werden die Verbindungen der sich herausbildenden Oppositionsgruppen mit jenen in Jena‚ Berlin‚ Dresden‚ Leipzig und mit ausgebürgerten Dissidenten‚ die sich inzwischen im Westen befinden‚ deutlich. Es finden sich Namen wie Jürgen Fuchs‚ Robert Havemann‚ Harald Seidel‚ Lutz Rathenow‚ Udo Scheer‚ Gabriele Stötzer‚ Wolfgang Templin‚ Reiner Kunze‚ Elly-Viola Nahmmacher‚ Winfried Arenhövel‚ Arnold Vaatz u. a. m. Nach der Verhaftung von Jürgen Fuchs schreibt Ullmann: »DEFINITION / als sozialistische länder / werden meist diejenigen / bezeichnet / in denen sozialisten / in gefängnissen / leben müssen«.
Allerdings verfolgt die Staatssicherheit auch eine andere Strategie: Joachim Walter‚ Autor des Standardwerkes »Sicherungsbereich Literatur«‚ schreibt im Hinblick auf Ullmann über die Absicht der Stasi und zitiert: »Der Verzicht auf strafrechtliche Sanktionen ist zugleich ein überzeugender Beweis für die politisch-ideologische Reife der sozialistischen Gesellschaft. Das zeigt sich beispielsweise darin: Feindlich tätige Personen‚ die einen ideologisch zersetzenden Einfluß auf Bürger der DDR ausüben‚ sind – zur Untätigkeit gezwungen und in Freiheit befindlich – weit weniger gefährlich als inhaftierte ‚Märtyrer’«. Die Bezirksverwaltung Gera des MfS legt fest‚ die Frau von Günter Ullmann so unter Druck zu setzen‚ daß sie künftig alle Veröffentlichungen ihres Mannes verhindere. Der Plan mißlingt. Udo Scheer schreibt: »Die psychischen Attacken zehren an Günter Ullmanns Gesundheit und bringen seine Familie an die Grenzen ihrer Kräfte.« (S. 194). Ullmann gibt nicht auf‚ er dichtet: »BEVOR MIR DIE / volkseigene / bombe / in die suppe / fällt / zeige ich mein / parteibuch vor / und sage ihr / hau schnell ab / der mit dem zylinder / wohnt nebenan«.
1988 spitzt sich die Situation zu. Udo Scheer schreibt: »Als im Januar 1988 die SED-Führung in Berlin ihre alljährliche Großdemonstration zu Ehren Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts zelebriert und mehrere hundert Gegendemonstranten brutal verhaftet werden‚ kommt es DDR-weit zu Mahnwachen. In Greiz ist Harald Seidel maßgeblich an ihrer Organisation beteiligt. Fortan wird er in einem eigenen Operativen Vorgang‚ dem OV ‚Protest’‚ bearbeitet. Er erzählt: 1988‚ als der Staat nach der Rosa-Luxemburg-Demo hart durchgegriffen hat‚ haben wir hier in Greiz das erste Mal vor der Kirche eine Mahnwache mit Kerzen abgehalten. Dazu sind wir zusammen mit Peter Hochel zuerst ins kirchliche Gemeindehaus‚ ins Paul-Gerhardt-Haus zu Pfarrer Böhme und Vikar Matthias Pöhland gegangen: ‚Wir müssen hier etwas unternehmen.’ Hochels Frau Brigitte stand draußen mit einer großen Kerze. Erst wollten wir eine Art Prozession auf der Straße veranstalten‚ aber das wäre zu gefährlich gewesen‚ also sind wir zur Stadtkirche gegangen und haben den ersten Fürbitt-Gottesdienst in Greiz abgehalten.« (S. 236). Die Dinge nehmen ihren Lauf‚ die DDR implodiert. Manfred »Ibrahim« Böhme wird zum Ministerpräsidentschaftskandidaten der SPD gekürt. Später wird der »Spiegel« schreiben: »Ibrahim Böhme… sei bis Mitte der siebziger Jahre unter dem Decknamen Paul Bonkarz für die Stasi als regelmäßiger inoffizieller Mitarbeiter tätig gewesen… Böhmes erster großer Fall sei der Schriftsteller Reiner Kunze gewesen.« (S. 251). Für Ullmann ist dies eine Tragödie. Scheer schreibt: »Günter Ullmann will nicht wahrhaben‚ was er über Böhme lesen muss‚ den er als »meinen Freund« bezeichnet. In einer ersten Regung richtet er seine Erbitterung in den Ostthüringer Nachrichten gegen Reiner Kunze und sein Buch Deckname »Lyrik«. (S. 253). Ibrahim Böhme ist wahrscheinlich tatsächlich die tragischste Freundschaft in Günter Ullmanns Leben. Scheer schreibt auf Seite 255: »Als Böhmes Asche schon einige Jahre anonym in Neustrelitz begraben liegt‚ bittet er Volker Müller‚ ihn dorthin zu begleiten: Wir waren zwei Tage dort. Günter wollte unbedingt Böhmes Grab sehen und mit Frau Winkelmann sprechen. Zum Grab wollte er unbedingt allein…«

Scheer‚ Udo: Die Sonne hat vier Ecken. Günter Ullmann – eine Biografie. 2012. 240 S. ISBN 978-3-89812-896-4 Mitteldeutscher Verlag Kt. 14‚95 €

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