Richard Wagner auf der Flucht
(Dieter Wolf)

Einst hatte der hingeschiedene Claquer der Dekonstruktion‚ Schlingensief‚ bevor ihm die Luft ausging‚ in seiner Inszenierung von »Parsifal« in Bayreuth alles auf den gemeinen Feldhasen hingemünzt‚ einen aus seiner Sicht urdeutschen Zentralmythos‚ der zudem eine christliche Erlösungssehnsucht verkörpere. Man müsse die Dinge nur richtig übertragen. Nun war Schlingensiefs Name schon Programm genug‚ er erhoffte sich‚ als Urwalddoktor der Musik in Afrika einst in Erinnerung zu bleiben‚ doch auch spätere Inszenierungen von Wagneropern anderer Regisseure und auch frühere‚ es ist ganz gleich‚ man denke an Castorf oder Neuenfels‚ bemühten sich in ihren Aufführungen‚ Zivilisationsmüll auf den Bühnen zu stapeln‚ der wenig beeindruckte‚ ästhetisch nicht überzeugen konnte und beim Zuschauer keinesfalls Fragen über Fragen hinterließ. Es hat den Anschein‚ Richard Wagner müsse dreizehn Jahrzehnte nach seinem Tod noch immer Jahr für Jahr niedergekämpft werden oder erschossen werden wie ein flüchtender Feldhase‚ die modernen Arten seiner unablässigen Hinrichtungen sind Legion. Immerhin ist er 1813 geboren und 1883 gestorben‚ für das‚ was danach kam‚ kann er ja nichts. Wir wissen nicht‚ wie er darüber gedacht hätte. Einem musikalischen Werk vorzuwerfen‚ daß spätere Adepten und Bewunderer es für ihre eigenen politischen Ziele vereinnahmten‚ ist billig. Wer wessen Lieblingskomponist in der Musikgeschichte war‚ zu registrieren und darüber Beweismaterial von tropischer Üppigkeit zu sammeln gleicht einer Huldigung von Petitessen‚ als wären diese wichtiger als das Werk. Den Feldhasen mit dem Dämonischen in eins zu setzen war ursprünglich die Absicht von Thomas Mann.
Den Ansatz Wagners‚ daß Musik ungezwungen aus den Tiefen der Seele strömen soll‚ hielt Thomas Mann für sehr gefährlich‚ denn der Drang nach ungehemmtem Ausdruck ist ja nur eine Seite seiner Musik‚ die Sehnsucht nach Ordnung ist ihre andere‚ befand er. Am 29. Mai 1945‚ Thomas Mann hatte völlig freiwillig die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen‚ hielt er einen Vortrag in Washington‚ in der Library of Congress. Er sprach über die »geheime Verbindung des deutschen Gemüts mit dem Dämonischen«. Es ging ihm um mehr als nur den gemeinen Feldhasen‚ es ging ihm um die Musik und im besonderen um jene Wagners und sogar auch Beethovens‚ man denke nur an seine 3. Sinfonie »Eroica«. Und so sagte er folgendes über die Deutsche Musik: »Sie ist berechnetste Ordnung und chaosträchtige Wider-Vernunft zugleich‚ an beschwörenden‚ inkantativen Gesten reich‚ Zahlenzauber‚ die der Wirklichkeit fernste und zugleich die passionierteste der Künste‚ abstrakt und mystisch. Soll Faust der Repräsentant der deutschen Seele sein‚ so müßte er musikalisch sein; denn abstrakt und mystisch‚ das heißt musikalisch‚ ist das Verhältnis des Deutschen zur Welt.« Warum konnte dies Joseph und seinen Brüdern aber nicht gefallen?
Wagner hatte gespürt‚ daß die industrielle Revolution als Folge der Aufklärung den Völkern etwas Lebensnotwendiges genommen hatte: Die Mythen‚ welche die Welt deuten lassen‚ die beheimaten in den Tiefen und Höhen des Lebens‚ die den Sinn generieren. Wagner hatte versucht‚ die germanischen und nordischen Mythen neu zu beleben. Die Renaissance des Eigenen stilisierte man zum Sündenfall und zur Verherrlichung‚ zur Apotheose der deutschen Musik. Wagner ging es um mehr. Er hatte im Mai 1849 in Dresden mitgekämpft‚ ein Jahr später befand er sich im Exil in Zürich. Er beklagte‚ was aus den tatenlustigen‚ selbstvertrauenden Heldengeschlechtern geworden war‚ feige und kriechende Staatsbürgerschaften‚ aus Speerschwingern Dütendreher.
Es schien fast‚ Wagner wolle ernst machen mit dem‚ worüber auch Schiller und die Romantiker gesprochen hatten‚ und so kam man unter den Bewunderern anfänglich überein‚ der Leitton sei das Prinzip‚ das die Wagnersche Musik zu einer so eigentümlich schwebenden‚ rastlos drängenden‚ ewig sehnenden macht‚ zu einer kongenialen Tonsprache für Dramen. Nietzsche schreibt: »Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen…« Und Schopenhauer schreibt in Anlehnung an Leibniz gar‚ die Musik sei »eine unbewußte Übung in der Metaphysik‚ bei der der Geist nicht weiß‚ daß er philosophiert.«
Wer als Komponist seinen expressiven Rausch ordnen und bändigen will sucht nach Formen. Wie metronomfreundlich muß ein Komponist sein? Genügte es nicht‚ wenn die Musik den Zuhörer bannte und er gedankenvoll in ihr versank? Denken wir einmal an Hegel‚ für ihn war Musik eine Kunstform‚ in der sich das Individuum in aller Tiefe selbst erkundet. Dies heißt‚ es handelt sich um einen Aufstieg des Ichs‚ des selbstbewußten Bürgers‚ der sich befreit. Konnte man tatsächlich sagen‚ die Musik half nicht nur dabei‚ die alten Mythen zu bewahren‚ sondern sie sei zugleich die Statthalterin unbeschädigten Lebens inmitten einer schwerbeschädigten Welt? Inwiefern vermag die Musik Wagners den reinen Immanenzzusammenhang von Ganzem und Teilen aufzuzeigen? Indem sie eine echte‚ dialektische Wechselwirkung mit einschließt? Im Begriff der Schicksalsgemeinschaft? Das Ganze geht im Einzelnen unter und das Einzelne im Ganzen. Immerhin scheint dies ein Grundprinzip des Werdens und Vergehens zu sein. Das Ganze kann sich nicht ohne das Einzelne entfalten und umgekehrt. Ist das Ganze die Wahrheit oder das Einzelne? Worin besteht die Summe der Wahrheiten?
Wenn die Musik die Seelen der Zuhörer entführt‚ ist jede Gegenwehr vergebens. Der Schwarm der Töne ergreift sie und führt sie in ein heimliches Reich. Ganz bei sich und ganz außer sich zu sein gehört zum Mond und Sonnenlauf des Lebens. Karlheinz Stockhausen behauptete‚ auf dem Planeten Sirius ausgebildet worden zu sein. Damit war auch klar‚ warum die Musik so ganz anders klang und er überhaupt kein Orchester mehr benötigte‚ nicht jeder hat so ein Glück. Musik ist kosmischer Einklang. Aber die Temperamente im Kosmos sind sehr verschieden‚ wie die Mythen und Philosophien‚ die Verwirrungen und die Entdeckungen mancherlei Wahrheiten. Die Emanzipation der Dissonanz ist krachend gescheitert‚ wie auch sonst. Der komponierende Arm der Frankfurter Schule ragt warnend noch aus dem Grab heraus‚ aber weitgehend vergeblich. Wagner verdient Vergebung. Ihm ist diktiert worden‚ was er schrieb‚ von Odin‚ dem Willen einer Macht‚ die er anfänglich kaum kannte. Beiläufig heißt es ja: »Für die wichtigsten Botschaften werden nur die Gehorsamsten ausgewählt.« Richard Wagner war nur der Ausführende eines verborgenen Willens‚ wie in allen Mythologien.
Zur Dichotomie‚ Papist oder Protestant‚ gesellt sich das Trinitarische: der Wagnerianer. Ihn vertreiben zu wollen ist vergebens‚ denn wer seine eigene Uhr in der Tasche trägt ist auf den Kirchturm nicht angewiesen. Wem die Stunde schlägt ist Siegfried. Entscheidend für den Weg eines Volkes in die Geschichte ist ihr Gründungsmythos‚ zu ihm wird es immer wieder zurückkehren‚ die Freiheit der Nation steht dabei im Vordergrund. Die Sprache ist ein kollektives Instrument‚ sie steigt aus der Volksseele empor. König Ludwig II. von Bayern schrieb an Richard Wagner: »Welch Wonneschauer wird mein Inneres erbeben machen‚ wenn ich in Ihrer Handschrift lesen darf: Vollendet das ewige Werk! Daß wir die Aufführung des Gott entsprossenen Nibelungen-Werks erleben werden – wie könnte ich daran zweifeln! Das werden Tage‚ ähnlich jenen unvergeßlichen‚ an welchen Tristan geboren wurde! Jubelnd denke ich daran zurück. Es waren die schönsten Stunden meines Lebens […] Sie werden sich rächen‚ die entweihten Götter‚ und oben weilen bei uns auf steiler Höh’‚ umweht von Himmelsluft.« Auch der Protestant Wagner‚ so scheint es‚ strebt nach Erlösung. Die durch Besitzgier‚ Wucher und Eigennutz deformierte Ordnung steht sich am Ende selbst im Weg. George Bernard Shaw schrieb in seinem im Jahre 1898 in Deutschland erschienenen Buch »Ein Wagner-Brevier« sinngemäß folgendes: Der Ring des Nibelungen spielt nicht in der Vergangenheit‚ sondern handelt von der gegenwärtigen Krise des Systems und seinen zerstörerischen Einwirkungen auf jegliche Ordnung der Dinge. Damit trifft Shaw immernoch ins Schwarze. Nun gut‚ mythische Geschehnisse wiederholen sich‚ ab und an ist es an der Zeit‚ sich auf die Flucht zu begeben. Aber wohin? Manchmal ist der Untergang eine Erlösung. Wagners Gedanken klingen modern‚ wenn man liest‚ der Staat sei aus einem »wohltätigen Schutzvertrag aller« zu einem »übeltätigen Schutzmittel der Bevorrechteten« geworden.
Man töte die Seelen der Menschen‚ um die Menschen als Maschinen verwenden zu können. Bemerkenswert ist‚ Wagners Freund‚ Georg Herwegh‚ war eng mit Karl Marx befreundet. In den Fluchten durch die degenerierte Welt‚ kreuz und quer durch Europa‚ wird ein individuelles Künstlerdrama sichtbar‚ die Industriegesellschaft verdrängt die Agrargesellschaft. Die Moderne erfordert eine positionelle Neubestimmung in Raum und Zeit‚ die Odyssee muß ein Ziel finden. Im Lohengrin gibt es eine Anspielung auf den Sieg König Heinrichs I. über die Ungarn im Jahre 933 an der Unstrut. Man verstand sie als einen Appell zur deutschen Einigung und Rückgewinnung deutscher Souveränität. Den Helden bleibt der Kampf gegen die Drachen nicht erspart. Lohengrins Sieg bedeutet vor allem das Ende einer archaischen Ordnung. Die neue Welt ist allerdings nun der säkularisierte Staat‚ das säkulare Imperium‚ ohne Mythen‚ in welchen die Willkür zu herrschen beginnt. Gibt es da nicht genügend Gründe zur Flucht? Wer kann einem jetzt noch zu Hilfe eilen? Die Moderne bietet keine Gewißheit der Erlösung‚ die Werte entschwinden wie verdunstendes Wasser‚ Durst stellt sich ein und die Verdurstenden irren umher. Wo liegt ihr Fluchtpunkt? Der Mensch der Moderne‚ der seine Waffen ohne die Hilfe der Götter hergestellt hat und sich frei von vertraglichen Bindungen betrachtet‚ die seine Handlungsfreiheit beschränken‚ versinkt im Sumpf aus Egoismus und Wucher‚ Habgier und Intrigen. Kein Wunder‚ daß Odin das Ende herbeisehnt. Erlösung dem Erlöser! Das Projekt der Moderne ist gescheitert. Europadämmerung! Gibt es eine Rückkehr zum Archaischen? Nachts fahren Autos durch die Straßen‚ aus ihrem Inneren dröhnt Musik‚ Rhythmen wie aus einer versunken geglaubten archaischen Zeit. Die in den Himmel aufwärts ragenden Höhlen aus Glas und Beton stehen fest‚ noch sehen die Drachen der Gegenwart den heraufziehenden Sturm ganz gelassen. Es ist Zeit für Siegfried‚ Fafner erneut mit dem Schwert zu bekämpfen‚ nicht zu fliehen‚ sondern sich dem Kampf zu stellen. Ist es Zeit zu einem Walkürenritt? Eines steht gewißlich fest: Richard Wagner ist in der Götterdämmerung entkommen‚ seine Kritiker hingegen haben sich zu Tode gesiegt.

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