Die Standortbestimmung unserer Zeit
(Walther Jantzen)

Ein Schriftsteller‚ der unlängst sein Manuskript einem angesehenen Verlage zur Stellungnahme übergeben hatte‚ erhielt es zurück mit dem Bemerken‚ die Arbeit sei als solche ausgezeichnet‚ jedoch sie entspräche nicht der Forderung‚ "unverwechselbarer Ausdruck unserer Zeit zu sein". Diese Feststellung traf immerhin ein Verlagshaus‚ das weder zu den mondänen zu rechnen ist‚ noch avantgardistische Allüren hat. Es ist ein Haus‚ das durch seine Veröffentlichungen Hunderttausende von Lesern gerade des Mittelstandes bedient und selbst auf eine mehr als hundertjährige Tradition mit Stolz zurückblickt...
Der vielumstrittene "Rahmenplan" für die Erneuerung des bundes-deutschen Schulwesens geht offensichtlich der bisherigen höheren Schule‚ jenem Gymnasium also‚ dem die Deutschen in den vergangenen Jahrhunderten immerhin eine Fülle von Forschern‚ Wissenschaftlern‚ Pädagogen‚ aber ebenso auch Verlegern‚ Schauspielern‚ Ärzten usw. zu verdanken hatte‚ ans Leben‚ und zwar ausdrücklich unter der Motivierung‚ daß unsere Zeit einen neuen Geist habe‚ auf den ein gegenwärtiges Schulwesen‚ ja die gesamte Bildung‚ neu eingerichtet werden müsse...
In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 20. Januar 1960 schreibt Richard Hülsenbeck von New York aus einem diagnostizierenden Artikel über die "Halbmoral" ‚ in dem er konstatiert‚ daß der Kampf gegen die Konvention (gemeint ist Tradition) nun einmal zu unserer Existenz gehöre‚ daß ferner frühere Generationen‚ die das Ganze suchten‚ uns nur gelehrt hätten‚ daß der Mensche es eben nicht vermöge‚ die absoluten Werte zu verwirklichen. Das notwendige Ergebnis sei‚ daß wir heute Lebenden "die wohlsituierten‚ gesellschaftlich und beruflich erfolgreichen‚ stets eiligen‚ immer aktiven‚ bewußt unbeschaulichen Halbmenschen unserer Zeit" wären – Sollen wir uns mit derlei Feststellungen‚ die allenthalben in den Maschinerien der öffentlichen Meinungsbildung auftauchen‚ zufriedengeben? Wer kann‚ wer darf überhaupt sagen‚ welches der Geist unserer Zeit sei! Ist ferner dieser Geist unserer Zeit etwas Gewachsenes‚ also Notwendiges‚ oder etwas Gemachtes‚ propagandistisch Hervorgerufenes oder gar nur ein Eingebildetes? Verwunderlich bleibt‚ daß es im öffentlichen Felde offensichtlich keine Diskussion über diese Frage gibt. "Man" erkennt‚ so sieht es jedenfalls aus‚ "die" moderne Kunst‚ "die" Ambivalenz (alles sei gleichzeitig halb gut und halb böse)‚ "die" Sensibilität des modernen technisierten (uns daher notwendig charakterfreien) Menschentyps widerspruchslos an und bringt dennoch die Harmlosigkeit auf‚ sich über zutage tretende Schwächen eben unserer Zeit gehörig zu wundern: Brüchigkeit der Ehen‚ Kriminalität der Jugend‚ Bestechlichkeit der Beamten‚ Abneigung gegen Jugend- und Erwachsenengemeinschaften‚ Austrocknung des erfüllten gesellschaftlichen Lebens und dergleichen mehr.
Man stellt den modernen Menschen literarisch (nach Hülsenbeck) dar als einen "turncoat"‚ also den Mann‚ der wesentliche Meinungen schnell wechselt: "Das ständige Umdrehen von Mänteln gehört heute fast zur guten Sitte. Die uns von der Zivilisazion aufgedrängte Notwendigkeit‚ eine zweite Natur zu haben‚ macht uns anfällig hinsichtlich festgefügter Meinungen‚ woher sie auch immer kommen mögen!"
Woher kommt das alles? – Wird uns hier vielleicht etwas weisgemacht‚ was einige wenige‚ um des Geldverdienens willen‚ recht gut brauchen können? Der Augenschein lehrt nämlich anderes: Der Autofahrer ist normalerweise keineswegs infolge seiner täglichen Begegnung mit dem von ihm betreuten technischen Instrument ihm gegenüber ein Halbmensch. Er pflegt sein Auto‚ er fügt sich willig in die (absoluten!) Werte der Verkehrsordnung (=Gesetze) ein‚ er ist nicht unmoralisch (sonst würde er jenden Fürwitzigen einfach in Grund und Boden fahren). – Aber auch der Arbeiter‚ der Meister im Industriewerk‚ der Ingenieur – sie alle sind gerade durch ihren Umgang mit der Technik gehalten‚ auf bessere Ordnung‚ strengere Gesetzmäßigkeit‚ ja in bestimmten Situationen sogar auf edlere Harmonie und Schönheit achten‚ als vielleicht Leute‚ die mit der Technik gar nichts zu tun haben. Ein Elektrititätswerk‚ ein Ozeandampfer‚ ja‚ wenn man will‚ sogar eine moderne Molkerei‚ sind Glanzstücke der Ordnung‚ ehernen Gesetzmäßigkeit‚ der Schönheit im Hinblick auf Werkgerechtigkeit.
Wieso also zwingt die Technik uns zu Charakterlosigkeit? – Da ist die Mär von der Gehetztheit unserer Zeit‚ die an allem schuld sei. Wer kann das beweisen? Früher haben die Menschen in der Überzahl zweifellos mehr gearbeitet als die heutigen. Es gab zumindest keine 45-Stunden-Woche. Man hatte auch nicht Geld genug für Café‚ Kino‚ Sportveranstaltungen‚ Fernsehen‚ Langspielplatten‚ Samba-Omnibusreisen usw. Hetzt uns die Arbeit‚ oder jagen uns die Vergnügungen? Dann freilich liegt es nicht mehr an der Technik‚ sondern an der Willensschwäche des einzelnen. Eine Abiturientin schrieb kürzlich‚ sie bejahe rückhaltlos die moderne Kunst‚ weil sie so trefflich die Gehetztheit unserer Zeit darstelle‚ aber sie bewundere auch die Werke der alten Meister‚ weil sie einen Hauch der Stille und Anmut früherer Generationen vermittelten. – Sind wir wirklich so weit‚ daß niemand mehr selbst sieht‚ wie beseeligend der Anblick eines schlafenden Kindes ist‚ heute wie eh und je‚ wei zeitlos glücklich Liebende einander anschauen‚ wie vor uns und nach uns in aller Ewigkeit – wie still und erhaben die Natur der Hochgebirge und der See vor uns liegt‚ ohne sich jemals "jagen und hetzen" zu lassen.
Vielleicht ist es doch besser‚ es mit Goethe zu halten: "Was man den Geist der Zeiten heißt‚ das ist... der Herren eigner Geist!"
Auch heute noch dürfte es dem richtig erzogenen und beherrschten Menschen möglich sein‚ sich frei und bewußt zu entscheiden‚ ob er ein gehetztes Leben führen muß oder nicht‚ ob er sich in jeden Sog der ferngesteuerten Massen hineinziehen läßt oder nicht‚ ob er er selbst bleiben soll oder willenloses Objekt eines propagierten Zeitgeistes werden will. Er wird es dann können‚ wenn das Schicksal ihm gütige und überlegene Erzieher hat zuteil werden lassen‚ und wenn er gelernt hat‚ richtig zu leben. Unter "richtig leben" steht man heute vielfach leider nur das physische Leben. Es gibt Reformhäuser‚ Nahrungsmittelprüfanstalten‚ Apotheken‚ gesundheitsfördernde Kurorte‚ Badeanstalten‚ Sporteinrichtungen für jedermann. Sie alle dienen dem Leibe. Der Seele dienen als "moderne Betreuer" die Psychologen...
Man sucht die gesunde Kost für die Seele meist erst dann‚ wenn es reichlich spät ist. Die natürlichen Kräftespender‚ die die angeblich so ruhigen Vorfahren noch gehabt haben‚ sind nicht mehr modern. Man singt nicht mehr viel auf den Dörfern‚ man hat keine eigene Hausmusik mehr‚ man kann nicht mehr Stiche und Gemälde sammeln. Dafür hat man Radio‚ Fernsehen‚ Museen‚ Bilderzeitschriften.
An all dem soll etwas schuld sein‚ das über uns gekommen wäre? Bicht die Technik hat uns erdrückt‚ sondern die Kommerzialisierung mit ihren raddinierten Überredungskünsten. Sie hat uns nur ein einziges genommen‚ die Freiheit der eigenen Entscheidung! Und dies im Zeichen der Demokratie‚ einer freien westlichen Welt!
Die alten Griechen wußten wohl um die Heilkraft der Dichtung und des Theaters. Sie bauten ihre Amphitheater neben die Tempel des Asklepios. In Goethe Iphigenie wiederholt sich noch einmal für das Abendland das Wissen um das wahrhaft Heilende in der Welt der beglückenden Kunst. Und heute? Wer hat es eigentlich bewirkt‚ daß fast eine ganze Generation von Schriftstellern nicht mehr gelesen werden kann‚ weil ihre Bücher fast einheitlich von allen Verlagen aus der "Produktion" ausgeschlossen wurden? Wir brüsten uns auf politischen Felde damit‚ daß wir allemal freie Wahlen fordern. In Sachen des Buches darf niemand wählen‚ weil eine große Anzahl von Autoren einfach nicht mehr zur Kandidatur zugelassen wird. Man läßt sie getrost verhungern im Zeitalter der Toleranz. Gelingt es aber doch dem einen oder anderen‚ sich gedruckt zu sehen‚ so eröffnet die Presse einhellig eine Kampagne gegen sie und irritiert damit Buchhändler‚ Käufer und Jugend gleichzeitig.
Hat man vergessen‚ daß Goethe einst verfemt war‚ weil er seinen Sohn nicht an den Befreiungskriegen gegen Napoleon teilnehmen ließ? Hat man vergessen‚ daß man nach 1945 die Verfemung vieler deutscher Dichter durch den NS verbrecherisch fand? Weshalb wir also weiter verfemt?
Gehört es‚ um den Gedanken noch einmal aufzunehmen‚ zum "unverwechselbaren Ausdruck unserer Zeit"‚ daß Dichtung‚ die "sich verkaufen lassen soll"‚ nicht mehr cvon den "absoluten Werten"‚ die nun einmal auf uns gekommen sind‚ singen und sagen darf? Muß alle neuzeitlich geduldete Dichtung "ambivalent sein"‚ damit auch wirklich alle glauben‚ daß unsere Zeit so und nicht anders sei?
Gewiß‚ unendlich viele Bücher leben nur ein paar Jahre oder im Ausnahmefalle Jahrzehnte‚ nur wenige sind nach hundert Jahren noch lesbar. Die Gründe dafür liegen im Stil‚ in der Sicht der Probleme‚ in der Technik der Darstellung. – Aber wer in aller Welt kann es verantworten‚ daß mit jedem Systemwechsel auch eine neue Mode in der Literatur dekretiert werden muß: Wir fühlen uns erhaben‚ wenn man an das Abendland in uns appeliert‚ wir wollen gute Europäer sein und denken dabei zweifellos an etwas recht Ehrbares. Wir machen in der ganzen Welt touristische Propaganda für die deutschen Dome‚ Burgen‚ Schlösser‚ Gemäldesammlungen und Festspiele. Im selben Atemzuge wird uns aber versichert‚ daß alle gegenwärtige‚ jedoch nicht "moderne" Kunst "museal" sei‚ daß alle Dramen‚ Romanen und Verse‚ die von den heute Lebenden geschrieben seien‚ nichts taugen‚ wenn sie eben nicht "unverwechselbarer Ausdruck unserer Zeit" seien! Früher kamen solche Versicherungen beim Publikum nicht an‚ weil es nicht mitmachte. Heute wird alles hingenommen. Wer es nicht akzeptiert‚ wird ausgelacht oder verdächtigt. Das ist unbequem.
Man besinne sich auf das‚ was hinter den Dingen steckt: Es ist nicht vorstellbar‚ daß jede politische Neuentwicklung eine neue Kultur entwickelt. Die Kultur hat ihre eigenen Gesetze. Sie schreitet vor‚ steckt bisweilen zurück‚ erneuert sich‚ treibt andere Blüten. Ihr Wesensmerkmal ist die Beständigkeit im Zentralen. Zu Goethes Jugendzeit wurde die Gotik verlacht‚ um 1800 das Barock. Wir Spätgeborenen wissen um die inneren Zusammenhänge. Unsere Kunstgeschichten zeigen darum die Weiterentwicklung einer im Grunde einheitlichen Linie in Kunst und Literatur. Wir Menschen nehmen nun einmal alles Wesentliche aus den Händen derer‚ die vor uns waren‚ und geben es gewandelt weiter an die Späteren. Mutwillige Brüche auf allen Kulturgebieten‚ die zudem alle zehn Jahre mit Vehemenz aufeinanderfolgen‚ tragen den Verfall in sich.
Heute gilt das Lob der öffentlichen Meinung den "Avantgardisten". Manche von ihnen mögen Könner sein. Viele sind zweifellos nur Mitläufer einer neuen Manier und Propagandisten der eigenen Sache. Das war in früheren Jahrhunderten so‚ es ist heute nicht anders. Man sollte einmal untersuchen‚ ob die heutigen Avantgardisten junge oder alte Leute sind‚ ob sie politische Helfershelfer haben‚ von der Presse ausgehalten werden oder sich großgehungert haben‚ wie viele von denen‚ die einst litten und heute doch anerkannt sind. Goethe mußte immer wieder um seine Honorare bitten‚ Schiller war sein Leben lang ein armer Mann. Es gibt heute Dichter‚ die reich sind‚ obwohl sie nach 1933 schon gut verdienten. Sie haben ihre Protektion nach 1945 gesucht und gefunden. Andere‚ die immerhin etwas können‚ verfügen über keine Patronage‚ sie sind ärmer als Arbeiter. Avantgardisten vermögen zuzeiten neue Stilentwicklungen auszulösen. Ob sie uns für unser Inneres etwas auf die Dauer zu geben vermögen‚ ist eine andere Frage. Schiller war Aventgardist‚ als er die Räuber schrieb‚ Goethe‚ als er Götz und Werther brachte – beide aber blieben nicht Avantgardisten. Sie überlebten alle ihre Zeitgenossen‚ weil sie sich rechtzeitig lösten und zu dem wurden‚ was ihnen abendländische Bedeutung zubrachte‚ eben Klassiker.
Man liest die literarischen Revolutionäre‚ solange man an ihrem Treiben interessiert ist‚ dann versinken sie. Seit 1945 haben schon viele Bücher‚ die erst hoch gelobt wurden‚ das Schicksal der Vergessenheit erfahren. Wir aber haben Ausschau zu halten nach jenen Werken literarischen Schöpfertums‚ die heilen und helfen können‚ die Berater und Förderer für unser eigenes Sein sind‚ die uns helfen‚ daß unsere Kinder in zunehmendem Maße dem Leben gewachsen sein können.
Bücher sind heute am meisten in Gefahr durch Bücher. Mode und Sensationsmacherei schwemmen tausende von Büchern auf den Markt‚ die nicht lange leben werden. Das bedeutende Buch hat es durch die Konkurrenz der modischen Bücher um so schwerer. Bücher sind in Gefahr durch Rundfunk und Fernsehen. Das gesprochene Wort wird niemals das gelesene ersetzen. Was man lesend in sich aufnimmt‚ bleibt länger. Es wirkt tiefer.
Bücher sind in Gefahr durch Journale‚ heute mehr denn je. Journale liest man im Café oder beim Zahnarzt oder in der Arbeitspause. Sie gleichen dem schärferen Gewürz‚ das keine Heilkraft hat‚ sondern Unruhe auslöst. Bücher muß man in Ruhe lesen‚ Seite für Seite. Man muß ihnen Freund werden‚ sie besitzen‚ sie im Bücherschrank haben. Sie sind oft verläßlichere Freunde als Menschen. Aber es will gelernt sein‚ ein Verhältnis zu guten Büchern zu haben‚ in der Jugend gelernt.
Wer sind nicht der Meinung‚ daß es einen unverwechselbaren Ausdruck unserer Zeit gibt. Wohl aber gibt es etwas Ewiges‚ das – auch im Irdischen – durch unser Leben geht. Dieses beseelt‚ beruhigt‚ heilt‚ hilft‚ fordert und verurteilt – es wird uns zuteil durch die Dichtung‚ die frei und groß ist – eindringlicher als durch Reden‚ Vorträge‚ Bildberichte. – Man gewöhne sich also wieder daran‚ jede Woche ein gutes Buch zu lesen‚ oder wenigstens jeden Monat.

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