Schriftsteller auf Reisen
(Wilhelm Castun)

Man reist ja nicht‚ um anzukommen... Das Zitat ist berühmt und gleichzeitig so unscharf‚ daß es vielfältiger Interpretation offen steht. Der Autor konnte sich also seinen ganz eigenen Reim darauf machen. Beim Untertitel des Buches stutze ich: von Goethe bis Chatwin – wer ist Chatwin? Muß man den kennen? Ein Blick ins Lexikon lüftet die Erinnerung‚ daß ich den Namen schon auf Bestsellerlisten gesehen habe. Allerdings lese ich dergleichen nicht und ich kenne auch niemanden‚ der Bestseller liest. So sei mir die Bildungslücke nachgesehen.
Das Buch beginnt aber nicht mit Goethe‚ sondern mit Casanova. Warum dann nicht von Casanova bis Chatwin? Hier kann man nur spekulieren. Vielleicht schien ihm das Polygamie-Symbol Casanova diskriminierend für den schwulen Chatwin? Wie dem auch sei‚ ich fand den Casanova-Aufsatz recht vergnüglich zu lesen‚ und auch den Vergleich der Italienreisen Herders und Goethes aufschlußreich und interessant. Aber dann wuchs mein Unbehagen.
Ich bin vielen Ansichten aufgeschlossen‚ auch wenn ich sie für Narreteien halte. Selbst mit einem Maoisten kann ich diskutieren‚ wenn er seine Ansichten offen und geradlinig vertritt. Vor~aus~ge~setzt freilich‚ daß ein Minimum an Gesprächskultur und in~tel~lektueller Redlichkeit eingehalten wird. Was ich aber ganz und gar nicht verknusen kann‚ ist eine Situation‚ wo mir eine Welt~anschauung zwischen den Zeilen‚ quasi hypnotisch‚ einge~flößt werden soll. Ich bin da wohl durch die DDR ein gebranntes Kind. Bei diesem Buch fällt schon einmal auf‚ daß nach Goethe alle Reisenden entweder Frauen‚ Ausländer‚ Juden oder Schwule sind. Das kann man ja vielleicht noch für einen Zufall halten. Beim Lesen aber nicht mehr. Auf Goethe folgt Sophie von La Roche‚ an der besonders gerühmt wird‚ daß sie die Erfinderin von Frauenzeitschriften ist. Nun schön‚ bleiben wir beim Thema Reisen. Frau von La Roche besucht nicht wie Goethe und Herder in »konventioneller Manier antike Schätze«‚ sondern ein Irrenhaus in England. Nun‚ das darf sie gern machen. Interessant ist aber‚ wie der Autor dies deutet. Er meint‚ sie suche »gezielt die Berührung mit gesellschaftlichen Tabuzonen«‚ »womit sie zu einer Vorläuferin von Hubert Fichte wurde‚ der... später Interviews mit Prostituierten machte«. Armer Goethe! Von solchen Inspirationen hast du dir noch nichts träumen lassen! Hubert Fichte gehört natürlich auch zu den Reiseschriftstellern‚ deren Auswahlkriterien nirgends zu lesen sind. Das Inhalts~ver~zeichnis‚ aufgemacht wie in einem Geschichtsbuch‚ listet vier Zeitalter auf und suggeriert repräsentative Vertreter. Hubert Fichte habe ich in meiner Jugend gelesen‚ allerdings habe ich kaum Erinnerungen. Eine allerdings blieb mir unauslöschlich: Er meinte‚ Nietzsche sei ein »schwuler Syphilitiker« gewesen und habe sich das Virus in einem Genueser Männerbordell geholt. Nun‚ in der Nietzsche-Forschung ist die Syphilis strittig und vom Männerbordell nirgends die Rede. Woher Fichte diese Kennt~nisse hat‚ bleibt sein Geheimnis. Ich habe nichts dagegen‚ daß Herr Fichte schwul ist‚ aber ich habe etwas dagegen‚ daß er die deutsche Geistesgeschichte verschwult und ihm ein zweifelhaftes Publikum applaudiert.
Nach La Roche folgt Heine. Hier wird an eine Bemerkung im Herder-Kapitel angeknüpft‚ wonach Hamann sich in Kants System nicht so recht wohl fühlte und andere Wege beschritt‚ die Herder anzogen. Es handelt sich hier um den uralten Gegensatz von Dichtern und Philosophen. Philosophen streben seit der Antike nach einem geistigen System des Weltganzen‚ die Dichter interessieren sich für die Buntheit der Teile. Eines gegen das andere auszuspielen ist schon methodisch Scharlatanerie. Genau dies geschieht hier‚ die Haman-Kant-Kontroverse kehrt wieder in der Heine-Hegel-Kontroverse. Ich bin kein Hegelianer und Kritik an Hegel sehr aufgeschlossen‚ aber ihm das Philoso~phie~ren überhaupt vorzuwerfen‚ ist kindisch. Das tut auch Heine gar nicht. Wohl aber der Autor dieses Buches. Für ihn gilt Adornos Verdikt »Das Ganze ist das Falsche«‚ also nicht etwa das Wahre‚ wie die Philosophen von Heraklit bis Heidegger gemeint hatten. Das Ärgerliche ist‚ daß für Adorno hier Hamann‚ Herder und Heine als Kronzeugen bemüht werden‚ was diesen Autoren ganz entschieden Gewalt antut.
So in einem fort. Es folgen noch Isabella Bird‚ Rabindranath Tagore‚ Tania Blixen‚ Ernest Hemingway‚ B. Traven‚ Hubert Fichte‚ Peter Handke und Bruce Chatwin. Ich habe leider keine Lust mehr weiterzulesen. Man sehe es mir deshalb bitte nach‚ wenn diese Besprechung etwas fragmentarisch ausgefallen ist‚ ganz im Sinne Adornos‚ daß das Ganze ja das Falsche sei.

Rieger‚ Michael: Man reist ja nicht‚ um anzukommen. Schrift~steller auf Reisen von Goethe bis Chatwin. 2011. 176 S.‚ 12 Abb. ISBN 978-3-650-23975-4 Lambert Schneider Gb. 19‚90 €

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