Sebastian
(Wilhelm Castun)

Der Held dieser 39 Szenen in Berlin-Kreuzberg heißt wie der Autor‚ ist so alt wie der Autor‚ stammt aus Freiburg im Breisgau wie der Autor‚ und die Vornamen der Episoden entsprechen den Namen einer Danksagung. Es ist wirklich kein Grund erkennbar‚ diese Prosa nicht als autobiographisch zu verstehen. Die erste Episode heißt »Das Ende«‚ die letzte »Der Anfang«‚ es beginnt mit dem Erhalt einer Wohnungskündigung und endet mit dem Auszug. Anfang und Ende wovon?
Gleich zu Beginn kommen dem Protagonisten beim Blick in den Spiegel englische Verse. Er fragt sich warum das so sei und findet keine Antwort. Auch später drängt sich ihm immer wieder die englische Sprache auf und läßt sich nicht unterdrücken.
Was sich hier englisch geltend macht‚ sind Zitate aus Musikstücken. Der Held bewegt sich in Zitaten‚ außerhalb der Wirklichkeit. Nicht nur das Erwachsenwerden scheint unmöglich‚ überhaupt der Eintritt in die Wirklichkeit.
Etwa in der Mitte des Buches bekennt er über seine Generation: »Wir brauchen etwas‚ womit wir uns identifizieren können... Wir bauchen kein Vorbild‚ keine Person‚ sondern eine Idee der wir folgen können...« Natürlich sind Sebastian und seine Freunde alle politisch links. Aber sie wissen zugleich‚ daß dies eine Leervokabel geworden ist.
Die Lektüre dieses Buches bereitet keine Freude und man kann sich auch nicht vorstellen‚ daß der Autor beim Abfassen desselben welche empfand. Die Lustlosigkeit als Prinzip‚ ob in der Liebe oder beim Telephonieren‚ ob beim Trinken oder Spaziergehen und als Leitmotiv über dem ganzen‚ daß meistens der Tag verschlafen wird und man froh ist‚ wenn man es geschafft hat‚ noch bei Helligkeit aufzustehen. Außer einem »Ja genau so ist es« von den nicht wenigen seiner Generation‚ denen es ebenso geht‚ wird der Autor wohl nicht viel Resonanz finden. Die Idee‚ der sich zu folgen lohnte‚ läßt sich eben nicht herbeischreiben.
Der junge Mensch‚ der sich so schrecklich alt und müde vorkommt‚ romantisiert eine Vergangenheit‚ die nicht besonders alt ist. Zeiten‚ wo Schallplatten noch Kultgegenstände waren und man nicht ganze Musikwelten von der Festplatte kopieren konnte. Regelmäßig schaut er auf seinem Laptop »Raumschiff Enterprice«-Folgen‚ die er illegal übers Netz holt. Neben der Utopie einer überlichtschnellen interstellaren Raumfahrt‚ dem Kontakt zu extraterrestrischen Spezies‚ einem Jenseits von sozialer Ungleichheit‚ Rassismus‚ Intoleranz‚ Armut und Krieg nehmen sich freilich die neoliberalen Stellenangebote‚ die flexible‚ belastbare‚ innovative‚ begeisterungsfähige‚ teamfähige und kreative Mitarbeiter möglichst zum Nulltarif suchen‚ außerordentlich schäbig aus.
Die Generation der Sebastians ist in den letzten Jahren der alten BRD aufgewachsen‚ auf einem Wohlstandsgipfel‚ von dem es nur noch abwärts gehen konnte. Und sie hat dies nicht nur begriffen‚ sondern verinnerlicht. Am Anfang steht das Ende.
Die Alternativen zum Rumhängen sind bekannt und werden oft aufgezählt. Sie sind so glanzlos wie ein Computerbildschirm der 70er Jahre. Das Faszinosum des wiedervereinigten Berlins erscheint als Dauerspielfilm für Touristen. Lästiger als diese sind bloß noch die Filmteams‚ die einem sogar den Weg zum Bäcker blockieren.
Aber hinter der Blockade lockt kein neues Land. Schwer vorstellbar‚ was der Autor in künfigen Werken erzählen will. Es scheint‚ daß er alles gegeben hat und doch nichts erreicht.

Lehmann‚ Sebastian: Sebstian. Das Leben ist nur ein Schluck aus der Flasche der Geschichte. 2011. 159 S. ISBN 978-3-938625-67-5 Satyr Verlag Kt. 10‚90 €

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